Neues zur Lebensform des Konsumismus

THING STUDIES Aufklärung über die Warenwelt: Es sind die Dinge, die Sinn und Ordnung in der Moderne garantieren

Zugleich vermittelt Daniel Miller einen prägnanten Eindruck vom vielfältigen Leben in der großen Stadt

VON MICHAEL RUTSCHKY

Bekanntlich machte nicht der Kapitalismus dem real existierenden Sozialismus den Garaus. Der Kapitalismus ist bloß eine Wirtschaftsform, keine Ideologie – der Sieger war der Konsumismus, mehr als eine Ideologie, eine Lebensform. Es gibt sie, die nützlichen, guten und schönen Dinge, und sie sind zu haben, was immer das im Einzelnen heißt. Unvergesslich, wie nach dem 9. November 1989 die Ostbürger hier nach Westberlin einströmten und sich schon von den Auslagen der türkischen Obst- und Gemüsehändler verzaubern ließen. Granatäpfel! Melonen! Süßkartoffeln!

Sie hatten einfach genug von dem armseligen Zeug, das ihnen der „Resozismus“ (Hans Magnus Enzensberger) in seinen regelmäßig halbleeren Läden anbot. Und es ging nicht bloß um Südfrüchte. Unvergesslich die tobende Schimpfrede, die ich Ende November 89 von der Gaststättenleiterin einer kleinen sächsischen Stadt anhören durfte. Sie hatte am Wochenende in Nürnberg zum ersten Mal die westliche Warenwelt besichtigt und das Angebot an Küchenmessern bestaunt, das ein ganz gewöhnliches Kaufhaus dem Kunden offerierte. Was dagegen, nach langen und umständlichen Mühen, in der DDR zu haben war?

Aber der Konsumismus kommt, jedenfalls in unseren Kreisen, bloß als kritischer Gegenstand unter die Augen. Die Dinge, die man jetzt und hier in solchem Überfluss kaufen und nutzen kann, irgendwie sind sie nicht die wahren Dinge, irgendwie sind sie Teufelswerk. Es sei denn, hätte unsere Freundin Jutta gespottet, man kauft alles bei Manufactum.

Immer noch eine Kehre vollführt der Philosoph, um die Verstelltheit der aktuellen Welt zu entlarven. „Vielleicht ist bislang zu wenig bemerkt worden, dass eine entscheidende Tendenz der Industrialisierung darin lag, den Produktionsprozess allmählich den Blicken der Menschen zu entziehen. Industrialisierung bedeutete nicht nur eine ungeheure Steigerung zunehmend genormter Produktivität, sondern auch deren Zentralisierung und Verlegung an wenige Orte.“ Um wenigstens exemplarisch zur Authentizität zurückzukehren, hätte unsere Freundin Jutta gespottet, treibt der Philosoph jeden Herbst ein Schwein auf den Campus und schlachtet es eigenhändig vor aller Augen.

Es wäre also nützlich, sich die Dinge, die im Zentrum des Konsumismus als Lebensform stehen, unabhängig von den Vorgaben der Kulturkritik (die meist von Martin Heidegger stammen) anzuschauen. Und tatsächlich, in der angloamerikanischen Welt, die uns wieder einmal voraus ist, beschäftigt sich eine ganze Disziplin mit „Thing Studies“ und „Material Culture Studies“. Denn die Waren, als welche die Dinge auf dem Markt zu kaufen sind, damit man sie dem Konsum zuführe, besitzen eben nicht bloß den Tauschwert, an dem Karl Marx das ganze Pandämonium seines Antikapitalismus aufgehängt hat – und unsereins folgte, von Walter Benjamin und der Frankfurter Schule instruiert, seiner Analyse der Warenform im ersten Kapitel von „Das Kapital“ wie einer Offenbarung über die falsche Welt, in der wir uns unentrinnbar befanden.

Nein, die Waren haben Gebrauchswert, und die Praktiker der Thing Studies beschäftigen sich auf das Genaueste eben damit.

Ihr Meister ist gewiss Daniel Miller, britischer Anthropologe, Jahrgang 1954, der schon 1998 eine „Theory of Shopping“ veröffentlicht hat. Das von ihm nun auf Deutsch erschienene Buch „Der Trost der Dinge“ zeichnet 15 Porträts, was George und Stan und Charlotte und Sharon mit den Dingen ihres täglichen Gebrauchs tun und lassen – wobei eine von Daniel Millers wiederkehrende Pointe ist, dass der Konsum, anders als die Kulturkritik es will, den Konsumenten nicht einsam macht (mit der Bierflasche vor dem Fernseher verdämmern), nein, die Dinge vergesellschaften die Leute.

Wenn sie fehlen, wird’s bedenklich. „Georges Wohnung irritierte uns von Anfang an. Das lag nicht an dem, was sich in ihr befand, sondern daran, dass sich, abgesehen von ein paar Möbeln und Teppichen, nichts in ihr befand.“ Und damit spiegelt sie Georges Person und Lebensgeschichte getreulich wider: ein alter Mann, der ohne alle Interessen, gar Leidenschaften ein ödes, ja, entfremdetes Leben geführt hat, im Bann einer eigentümlichen Pathologie, die der Anthropologe als extreme Abhängigkeit von Autoritäten – beginnend mit der elterlichen – skizziert.

Ganz anders Marina, die ihr Leben in strikter Ablehnung ihres konservativen Elternhauses aufbaut und den feinen Antiquitäten von Vater und Mutter die standardisierten Möbel von Ikea entschieden vorzieht; die, statt der formellen und todlangweiligen Familienmahlzeit, mit ihren Kindern zu McDonald’s geht und das Angebot der „Happy Meals“ zu einer ausgedehnten Belustigung zu nutzen weiß – das habe ich mal vergeblich einem Literaturprofessor zu erklären versucht, dass zu McDonald’s gehen ein Akt der Emanzipation sein kann, weil das Kind, der Jungmensch so dem Familienkult der gemeinsamen Mahlzeit entrinnt (die entsprechende Szene findet sich in dem Film „Fargo“, einem der Meisterwerke der Coen-Brüder).

Marina feiert ihren Familienkult auf frische und glückliche Weise gerade hier im Fast-Food-Restaurant – dass das Angebot strikt genormt ist, störte den Literaturprofessor; der Gedanke taucht ebenso bei dem oben zitierten Philosophieprofessor, Konrad Paul Liessmann, auf: Es handelt sich allerdings um ein kulturkritisches Klischee. Schaut man wie Daniel Miller den Leuten wirklich zu, erweist sich der Konsum als hoch individualisierte Praxis. Es ist wie mit dem Lesen: Jeder liest sein eigenes Buch.

Schaut man wie Miller den Leuten wirklich zu, erweist sich Konsum als hoch individualisierte Praxis

Aporopos. „Der Trost der Dinge“ ist keine Übersetzung von Daniel Millers „The Comfort of Things“ (2008). Suhrkamp hat das Buch halbiert. Auf Deutsch gibt es nur 15 der insgesamt 30 Fallstudien aus der Londoner „Stuart Street“, die zugleich einen prägnanten Eindruck vom sozial so unglaublich vielfältigen Leben einer großen Stadt bieten sollen, an dem ja auch der verbitterte Pornokonsument (Stan) und die gekränkte Exilgriechin (Elia) mitweben. Begründungen für die drastische Kürzung verschweigt uns Suhrkamp, ebenso deren Prinzipien; im Nachwort kommt Miller auf die „Katholikin Marica“ zu sprechen – deren Porträt, wie uns lakonisch eine Anmerkung des Übersetzers aufklärt, auf Deutsch fehlt. Anscheinend will Suhrkamp seine eigene Praxis, die Gesellschaftswissenschaften feuilletonfähig zu machen, nicht fortsetzen.

Thing Studies, eine „dichte Beschreibung“ (Clifford Geertz) der modernen Welt, jenseits (oder diesseits) der Alternativen von Kritik und Affirmation. Das (richtige oder falsche) Bewusstsein ist kein verlässlicher Gegenstand. „Unser Hang zum Materialismus verschuldet sich zu großen Teilen dem paradoxen Bedürfnis, die Fluidität des Bewusstseins in die Solidität der Dinge umzuwandeln“, heißt es in einem Sammelband mit ausgewählten amerikanischen Thing Studies, das Korsett, die Nähmaschine, Tupperware, der Fernseher.

Es könnte sein, dass es die Dinge sind, die, aus magischen und Machtzusammenhängen herausgelöst und zum intelligenten Gebrauch freigegeben, die Ordnung der modernen Welt garantieren, eine Ordnung, die sich ein konservativer Anthropologe wie Arnold Gehlen nur von den Institutionen versprechen konnte, die das lüstern-ungebärdige Individuum disziplinieren. So ähnlich sieht es heutzutage ja auch der Ratzinger-Papst und die seinen, wobei sie als einzig verlässliche Institution die römische Kirche propagieren.

Eine ohnmächtige, weil metaphysische Propaganda, Aberglauben. Während das Studium der innerweltlichen Dinge und des Gebrauchs, den die Leute von ihnen machen, unsere Kreise, die so gern in antikapitalistischem Pessimismus schwelgen, über die Wunder des Konsumismus aufklären kann, der als Sieger aus den Kämpfen der Moderne hervorgegangen ist.

Daniel Miller: „Der Trost der Dinge. Fünfzehn Porträts aus dem London von heute“. Suhrkamp, Berlin 2010. 230 Seiten, 15 Euro ■ Anke Ortlepp/ Christoph Ribbat (Hg.): „Mit den Dingen leben. Zur Geschichte der Alltagsgegenstände“. Franz Steiner, Stuttgart 2010. 339 Seiten, 26,90 Euro ■ Konrad Paul Liessmann: „Das Universum der Dinge. Zur Ästhetik des Alltäglichen“. Paul Zsolnay, Wien 2010. 208 Seiten, 17,90 Euro