„Glamour ist Teil der Geschichte“

KINO Wie dreht man einen Film über den meistgesuchten Mann der Welt? Ein Gespräch mit dem Regisseur Olivier Assayas über „Carlos – Der Schakal“

■ geb. 1955 in Paris, begann seine Karriere als Filmkritiker für die Zeitschrift Les cahiers du cinéma. 1986 drehte er seinen ersten Film, „Désordre“ („Lebenswut“), von der Kritik hoch gelobt. Sein nächster großer Erfolg war der Film „Irma Vep“ (1996) mit Maggie Cheung in der Hauptrolle, an dem sich ablesen lässt, wie geschickt Assayas Autoren- und Genrekino zusammenführt. Es folgten u. a. „Demonlover“ (2002), „Clean“ (2004) und „Boarding Gate“.

■ „Carlos – Der Schakal“ startet kommende Woche in den deutschen Kinos. Im Zentrum des Films steht der Überfall eines terroristischen Kommandos unter Führung von Carlos auf die Opec-Konferenz in Wien im Dezember 1975.

■ Ein Interview mit Thomas Kram, einem ehemaligen Mitglied der deutschen Revolutionären Zellen, die an dem Anschlag beteiligt waren, brachten wir vergangene Woche (taz vom 23./24. Oktober).

INTERVIEW CRISTINA NORD

taz: Herr Assayas, „Carlos“ ist ein ehrgeiziges Filmprojekt, mit einem internationalen Ensemble, fünfeinhalb Stunden Laufzeit und einer Hauptfigur, die berüchtigt ist und deswegen nicht leicht darzustellen. Hatten Sie manchmal Angst vor Ihrer eigenen Courage?

Olivier Assayas: Oh ja. Ich wollte das eigentlich gar nicht machen. Der TV-Produzent Daniel Leconte kam mit einem Projekt auf mich zu, in dem es um Carlos’ Verhaftung im Sudan ging. Ich sagte ihm, ich sei nicht sicher über seine Herangehensweise, aber etwas über Carlos zu machen schien mir eine interessante Idee. Es ist eine der großen, noch nicht erzählten Geschichten unserer Zeit. Leconte schickte mir daraufhin eine Menge Recherchematerial.

Das der Journalist Stephen Smith gesammelt hatte?

Ja. Ich fing an zu lesen und fand es sehr spannend. Aus Neugier heraus begann ich mir vorzustellen, wie man das Ganze in einen Film verwandeln könnte. Und ich merkte schnell: Das würde extrem schwierig werden.

Warum?

Ich wollte auf keinen Fall ein Resümee drehen, denn das wäre der schlechteste denkbare Zugang, damit tappt man in all die Fallen des Biopics und vereinfacht komplexe geopolitische Zusammenhänge. Ich wusste: Falls dieser Film entstehen sollte, dann würde ich keinen einzigen Kompromiss machen. Als ich anfing, mit Canal Plus zu sprechen, blieb ich dementsprechend firm und sagte: „So will ich das machen, und wenn Sie damit nicht einverstanden sind, müssen Sie sich jemand anders suchen.“

Wie hat Canal Plus reagiert?

Erstaunlicherweise unterstützten sie mich. Ich nahm alle Hürden, und ich konnte es nicht glauben. Ich dachte, dass irgendwann jemand sagen würde: „Wach auf, das ist sinnlos, du machst etwas, was es im Fernsehen noch nicht gegeben hat, einen fünfeinhalbstündigen Film, das ist schön für dich, aber wir sehen kein kommerzielles Potenzial. Hör auf!“ Aber das ist nicht geschehen.

Ihr Film stellt recht deutlich klar: Die eine Wahrheit gibt es nicht, es gibt zu viele widerstreitende Versionen. Vor jedem Teil gibt es ein entsprechendes Schriftinsert.

Das war eine Haftungsausschlussklausel, die wir bringen mussten.

Wie gehen Sie denn in der Praxis damit um, dass es unterschiedliche Versionen gibt? Wenn Sie eine Szene schreiben, müssen Sie sich ja für eine bestimmte Version entscheiden.

Eine Menge Material ist ziemlich eindeutig. Uneindeutig ist, wer die Opec-Operation in Auftrag gegeben hat. Alle Geheimdienstquellen deuten darauf hin, dass es der Irak war. Hans-Joachim Klein sagt, es sei Libyen gewesen, weil er das so gehört hat. Aber er war nur ein kleiner Soldat. Auch Carlos hat eine Erzählung ins Netz gestellt, nach der es die Libyer waren. Gaddafi habe die Operation angeordnet. Aber es ist sehr schwer, Carlos’ Version Glauben zu schenken. Er hat nie die Wahrheit gesagt, warum sollte er es ausgerechnet hier tun? Für Stephen Smith ist die Sache klar: Er ist sich zu hundert Prozent sicher, dass es die Iraker waren. Aber sobald man sich die Details ansieht, merkt man, dass Libyen und Irak zum damaligen Zeitpunkt sehr eng miteinander verbunden waren, sodass das, was im Interesse des Iraks war, auch im Interesse Libyens war und umgekehrt. Das heißt: Es ist durchaus wahrscheinlich, dass Libyen auch involviert war. Ich gehe von der wahrscheinlichsten Version aus, also von einem irakischen Auftraggeber. Aber es wird immer wieder erwähnt, dass die Libyer in die Sache verwickelt sind. Wadi Haddad zum Beispiel sagt das mehrmals. Eigentlich entscheide ich mich nicht, sondern nenne die beiden möglichen Auftraggeber.

Wie steht es denn um Details, etwa um das Verhältnis, das Carlos während der Opec-Operation zu einer der Geiseln, dem Ölminister seines Heimatlandes Venezuela, aufbaut? Haben Sie das erfunden?

Nein, die Dialoge zwischen Carlos und Hernández Acosta beruhen auf Interviews, die Hernández Acosta damals gab. Ich verwende also mehr oder weniger seine eigenen Worte. Dasselbe gilt für den saudischen Ölminister Yamani. Die Dialoge zwischen ihm und Carlos gehen auf Yamanis Berichte zurück.

Sie haben eine ganze Ära, die siebziger Jahre, rekonstruiert. Das betrifft ja nicht nur Kostüme und Requisiten, sondern auch eine bestimmte Raum-Zeit-Konstellation.

Ich bin in den Siebzigern groß geworden, sie sind mir vertraut. Als ich die Dialoge schrieb, war ich überrascht, weil ich merkte, dass ich diese Sprache noch spreche. Und ich erinnere mich daran, wie sich diese Jahre angefühlt haben, ich habe ein Gespür, das mir hilft, zu wissen, was glaubwürdig ist und was nicht. Ich habe bisher nur einen einzigen Film gemacht, der in den siebziger Jahren spielt, „L’eau froide“, es ging darin um Teenager in den Siebzigern, und ich erinnerte mich daran, wie viel Spaß es mir machte, diese Zeit zu rekonstruieren. Das führte mich auch dazu, lieber mit Weitwinkelobjektiven zu arbeiten als mit dem Teleobjektiv.

Warum?

Ich liebte die Location, ich liebte die Ära, also wollte ich mehr davon zeigen, und dazu benutzte ich größere Bildwinkel. Mit einem normalen oder einem Teleobjektiv wäre das viel komplizierter. Kaum weicht der Dolly auch nur ein bisschen von der Markierung ab, ist das Bild unscharf. Bei Weitwinkelobjektiven ist die Fehlertoleranz größer, das heißt, dass die Einstellungen leichter zu organisieren sind. Ich arbeitete plötzlich mit superkomplizierten Schwenks. Mit einem normalen Objektiv hätte ich Stunden gebraucht, sie vorzubereiten, hier war es eine Angelegenheit von 15 Minuten.

Das stiftet eine sehr flüssige Anmutung. Dazu kommt, dass Sie sich viel Zeit nehmen. Zum Beispiel bei der Schießerei in der Rue Tullier. Bevor die Schüsse fallen, sieht man die Partygäste; sie trinken, sie singen, sie spielen Gitarre, die Polizisten kommen, aber die Party dauert an.

„Es geht ja nicht darum, Gewalt zu präsentieren, es geht darum, zu zeigen, wie sie vor sich geht“

OLIVIER ASSAYAS

So war es. Es steht alles in den Polizeiprotokollen, der Rhythmus der Ereignisse, wer wann in den Raum kommt und wer wann geht.

Ja, aber da steckt doch mehr drin – genauso wie bei der Geiselnahme in Wien. Allein wie Sie die Actionmomente mit den Momenten kombinieren, in denen nichts passiert.

Ich war fasziniert davon, wie Wirklichkeit sich entfaltet. Hätte ich es kompakter gemacht, es mehr wie einen Actionfilm inszeniert, wäre es vollständig falsch gewesen. Denn es geht ja nicht darum, gewalttätige Handlungen zu präsentieren, es geht darum, zu zeigen, wie das vor sich geht. Für mich ist jemand, der in 15 Sekunden auf vier Männer schießt, einfach unglaublich. So etwas passiert nur in verrückten Situationen. Ich muss diese Situation also so aufbauen, dass man an einen Punkt gelangt, wo man glauben kann, was passiert. Weil die Anspannung irgendwann so groß ist, dass jemand aufsteht und schießt. Aber das muss ich eben erst mal konstruieren. Und das bedeutet auch, dass die Individuen, die in die Ereignisse verwickelt sind, nicht wissen, was passieren wird. Dasselbe gilt für die Geiselnahme: Man muss die Geschichte aus der Perspektive der Figuren erzählen, und die Figuren wissen nicht, wie es ausgeht. Man braucht eine Zeit für die Ungewissheit, für die Drohung, den Zweifel.

Ich habe eine böse, ironische Volte wahrgenommen: Carlos versteht sich als Kämpfer gegen den Kapitalismus, zugleich zeichnet sich in ihm der flexible Unternehmer des globalisierten Kapitalismus ab, denn er spricht eine Menge Sprachen, ist ein Netzwerker, agiert global und jeweils so, wie es die Umstände verlangen.

Das ist richtig, aber ich denke, er würde das nicht so sehen. Politik ist heute globalisiert. In Filmen wird sie oft fragmentiert dargestellt. Das ist ein Problem – in Deutschland werden Filme über deutsche Terroristen gemacht, in Italien über italienische Terroristen, in Japan über japanische Terroristen, obwohl es beim Terrorismus immer um Geopolitik geht. Das verkörpert Carlos.

In Ihrem Spielfilm „Boarding Gate“ gab es eine starke Verbindung von Waffen und Erotik; die Darstellerin Asia Argento war immer wieder in schwarzer Unterwäsche und mit großkalibrigen Pistolen zu sehen. „Boarding Gate“ war ein Genrefilm, das ist „Carlos“ nicht, trotzdem gibt es diese erotische Aufladung der Waffen. Was haben Sie getan, damit Carlos dabei nicht glamourös erscheint?

Der Glamour ist doch ein Teil von Carlos’ Geschichte! Darüber wollte ich nicht hinwegtäuschen. Sein Charisma, sein Machismo, seine Fähigkeit, Freunde und Freundinnen um sich herum zu versammeln, das alles ist ein Teil von ihm. Was an der Zusammenarbeit mit Édgar Ramírez großartig war, war, dass er sehr geradeheraus damit umgegangen ist. Er hat weder den Machismo noch den Narzissmus von Carlos infrage gestellt, beides gehört zu Carlos’ Persönlichkeit, also absorbiert er es. Ich spreche nicht nur von den Sexszenen, sondern auch über Actionszenen, in denen Édgar Ramírez weit mehr gab, als im Drehbuch stand. Ich habe bei diesem Film von außen Regie geführt, Édgar von innen.

■ Die Rezension zu „Carlos – Der Schakal“ folgt zum Filmstart nächste Woche