Gefährdete Ruhe

FILMFESTIVAL Die Duisburger Filmwoche bietet ein kleines, engagiertes Programm deutschsprachiger Dokumentarfilme, Blickberuhigungen und -erweiterungen inbegriffen

„Jeder versucht in einem Gesicht zu lesen“

PETER OTT, DOKUMENTARFILMER

VON DOMINIK KAMALZADEH

Verschiebungen und Umkehrungen verbürgter Perspektiven waren bei der 34. Duisburger Filmwoche an vielen Stellen zu beobachten. Das kleine, engagierte Festival für den deutschsprachigen Dokumentarfilm hatte sich in diesem Jahr das schöne Wort Horizont aufs Banner geheftet – im Diskussionsraum wurden die einzelnen Buchstaben tageweise vertauscht, so entstanden die Anagramme „Ohrnotiz“ oder, ein wenig geschummelt: „Hirnzoo“. Horizont passt zu Duisburg jedenfalls schon deswegen gut, weil das Festival die Erweiterung desselben in einer ausgiebigen Auseinandersetzung sucht. Nach jedem Film wird ausführlich geredet, und im Programm sind seit je Filme in der Überzahl, die sich fernsehüblichen Darstellungsweisen und Erzählformen verweigern.

„Auf Teufel komm raus“, ein Film von Mareille Klein und Julie Kreuzer, hatte schon bei den Hofer Filmtagen für Aufmerksamkeit gesorgt. Er behandelt einen Fall, der zuerst das Selbstverständnis einer Gemeinde, schließlich aber auch immer mehr die liberalen Überzeugungen des Zuschauers durcheinanderbringt. Die Fronten scheinen zu Beginn schon unverrückbar: auf der einen Seite eine aufgebrachte Bürgerversammlung, die vor einem Haus mit Bannern wie „Achtung Kinderschänder!“ demonstriert; auf der anderen, verschanzt hinter Jalousien, Karl D., ein mehrfach verurteilter Sexualstraftäter, der sich nach Haftentlassung bei seinem Bruder im Dorf Randerath in Nordrhein-Westfalen niedergelassen hat. Dass dies zu einem dauerhaften Zustand wird, wollen die Bürger nun mit aller Macht verhindern.

Nicht geläutert

Die beiden jungen Filmemacherinnen beweisen einen hohen Grad an Differenzierungsvermögen. Nicht an einer Parteinnahme ist ihnen gelegen, sondern an der Darstellung eines Krisenfalls, der eine Belastungsprobe für jedes soziale Miteinander bedeutet. Der aggressive Mob steht für einen Gesellschaftskörper, der sich gegenüber einem Täter verschließt, während die Familie zwar integrativ wirkt, allerdings um den Preis einer Ausblendung, ja Verdrängung von Schuld. Gängige Täter-Opfer-Schemata sind hier kaum anwendbar. Auf der Seite der Bürger – unter denen sich Vergewaltigungsopfer befinden – brechen die Fronten auf, Feindbilder werden brüchig. Umgekehrt bereiten mehrere Szenen mit Karl D. Unbehagen, weil sich dieser in seinen Aussagen nicht gerade geläutert zeigt. Eilfertige Lösungen, so viel steht fest, bieten sich in diesem Konflikt keine an.

Eine noch radikalere Form von Blickverschiebung wird in Peter Otts Film „Gesicht und Antwort“ geleistet, jenem Film, der in Duisburg dieses Jahr vielleicht die heftigsten Reaktionen provoziert hat. Ott fertigt darin das ungewöhnliche Porträt seiner schwer behinderten Schwester Daniela, die sich in einem „Low Consciousness State“ befindet – scheinbar sprachlos und bewegungsunfähig, aber mit wachem Blick ist sie vollkommen auf die Hilfe anderer angewiesen. Lange Einstellungen auf die bewegungslose Frau konfrontieren den Zuschauer nun mit einem Körperbild, zu dem sich zu verhalten er erst einmal lernen muss. Schwankt man anfangs zwischen Abwehr und Faszination, so beruhigt sich der eigene Blick allmählich. Man beginnt die Signale der Protagonistin besser zu verstehen und sich auf ihre Welt auszurichten. „Jeder versucht in einem Gesicht zu lesen“, sagte Ott in der Diskussion. Der Film ist das eindrückliche Unterfangen, eine Erfahrungswelt jenseits gängiger Codes zu vermitteln.

Vielleicht lässt sich das Festivalmotto Horizont aber auch als Aufforderung verstehen, vermeintlich übersichtliche Perspektiven aufzugeben: In „Kleinstheim“ von Chris Wright und Stefan Kolbe („Das Block“) wird ein geläufiges dokumentarisches Sujet etwa auf unüblich offene Weise verhandelt. Im Mittelpunkt steht weniger das Kinderheim in der Magdeburger Börde als die vorsichtige Annäherung an seine sieben Bewohner im Teenageralter. Nicht um jeden Preis drängt sich die Kamera den Protagonisten auf, die zwischen Rollenmustern und aufrichtiger Selbstauskunft hin und her wechseln können. Inszenierung und Montage lassen den Figuren Raum und suchen eher Bilder, die der emotionalen Verfassung der Protagonisten, einer immer noch gefährdeten Ruhe nach schwierigen Lebensjahren, Resonanz verleihen. Umso bewegter ist man dann, wenn ein eigensinniges Mädchen über Briefe an ihren Vater und die verstorbene Mutter Einblicke in ihr Inneres gewährt.

Durch die Nacht

In Yvette Löckers Film „Nachtschichten“ ist der Mangel an Tiefenschärfe von der Wahl des Themas bedingt: Sie begleitet nachtaktive Menschen durch das winterliche Berlin – in Bildern, die oft auf ganz geringe Lichtherde angewiesen sind. Vermummte Graffiti-Sprayer, umherstreifende Obdachlose, Sozialhelfer im Bus, Polizisten im Helikopter oder eine japanische DJ-Frau formen das Panorama einer Gegenwelt, die im Unterschied zu der vertrauten des Tages etwas Wildes und Unkontrollierbares behält. Nicht selten verhalten sich die Menschengruppen nach dem Schema von Jäger und Verfolger zueinander – was schließlich in jener Szene ein schönes Echo findet, in der ein Fuchs eine Gans stehlen will.