Meine Wut und ich

DEUTSCH/NICHTDEUTSCH Und auf einmal bist du „Migrant“. Die Debatte um Thilo Sarazzin hat Spuren hinterlassen

■ 1971 geboren, ist Schriftsteller und lebt in Berlin.

■ Er schrieb bislang vier Bücher. 2002 den Debütroman „Mathildas Himmel“. 2004 „Genosse Nachwuchs“, ein dokumentarisches Buch über politische Basisarbeit. 2006 die Familienrecherche „Heimatroman oder Wie mein Vater Deutscher wurde“. 2010 kam der zweite Roman von Nicol Ljubic, „Meeresstille“, heraus, der ihm einen Platz auf der Longlist zum diesjährigen Buchpreis einbrachte.

VON NICOL LJUBIC

Vor Kurzem erst saß ich in einem freundlichen, hellen Tagungsraum einer christlichen Akademie. Hinter einer Glasfront: Wald, Wiesen und ein paar Kühe. Hier, dachte ich, sei ich geschützt vor den Ausläufern des Tiefs Sarrazin, das Deutschland schon seit Wochen beherrscht.

Es saßen literaturinteressierte Menschen im Raum. Thema der Tagung: „Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Globalisierung“. Ich war als Autor geladen. Es war auch nicht das erste Mal, dass ich aus meinem Roman las, in dem der Bosnienkrieg eine Rolle spielt, und mit den Zuhörern ins Gespräch kam. Ich weiß mittlerweile, worauf ich gefasst sein muss. Und trotzdem: An diesem Tag in der Akademie war etwas passiert, mit mir war etwas passiert, was mich selbst überraschte, und das hatte mit diesem Orkan zu tun, der draußen im Land tobte. Ich spürte zum ersten Mal Wut in mir.

Dazu muss man ein paar Dinge über mich wissen. Ich bin im Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft, und zwar vom ersten Tag meines Lebens an. Meine Mutter war schon immer Deutsche, mein Vater seit 1971, als er für 750 Mark seine Einbürgerungsurkunde bekam. Jahre zuvor war er aus dem damaligen Jugoslawien über Italien, Frankreich nach Deutschland geflohen, ohne Papiere, mit siebzehn, als gelernter Autoelektriker. Damals, als die Welt noch in zwei Blöcke geteilt war, musste man kein Dissident sein, um politisches Asyl zu bekommen, da reichte schon der Wunsch nach einem besseren Leben. Auf die Frage der französischen Behörden, warum er nach Frankreich gekommen sei, schrieb mein Vater: „Dies ist ein entwickeltes Land, und ich hoffe, dass Sie mir erlauben, auch hier bleiben zu können.“ Er lernte dann aber ein deutsches Au-pair-Mädchen kennen, und zusammen suchten sie ihr Glück in Deutschland.

Mein Vater hat mir von klein auf zwei Dinge eingetrichtert: 1. Junge, lern Deutsch. Sonst bist du in diesem Land ein Idiot. 2. Bring gute Noten nach Hause, sonst hast du hier keine Chance.

Mein Vater fand Arbeit bei der Lufthansa, wurde in den Auslandsdienst geschickt nach Zagreb, seiner Geburtsstadt, wo ich dann auch zur Welt kam. Die ersten 15 Jahre meines Lebens wuchs ich in verschiedenen Ländern auf, ich habe einen schwedischen Kindergarten und danach deutsche Schulen besucht und meist gute Noten nach Hause gebracht. Mit der Einschulung wurde Deutsch zu meiner Muttersprache. Ich spreche kein Kroatisch, und ich kenne mich nicht mal besonders gut aus in Kroatien, was der andere Teil meiner Familie nicht verstehen kann, aber das ist eine andere Geschichte.

Hieße ich Spauke, wie meine Mutter vor ihrer Heirat, käme niemand auf die Idee, ich könnte kein Deutscher sein. So aber habe ich mich daran gewöhnt, auf meinen Migrationshintergrund angesprochen zu werden, und bis zu jenem Tag in der Akademie hat es mir auch nichts ausgemacht, wenn Menschen mir Komplimente machten, weil ich so gut deutsch spreche. Oder mich fragten, ob es jemanden gebe, der meine Texte schriebe. Vor Kurzem schickte mir die Redakteurin einer großen deutschen Boulevardzeitung eine Mail, weil sie einen Text von mir wollte. In der Titelzeile stand: „Fremde Autoren in Berlin“. Ich antwortete freundlich, dass ich wohl der Falsche sei, weil ich mich gar nicht fremd fühle.

Als mein Roman für die Longlist des Buchpreises nominiert wurde, hoben verschiedenste Zeitungen hervor, dass acht Autoren der Longlist einen Migrationshintergrund hätten, so viele wie noch nie. Die Berliner Zeitung bezeichnete diese Autoren als „Exoten“. All das machte mir nichts, auch dass es schon Magazine gab, die Lubitsch unter meine Texte schrieben, weil ihnen das offenbar vertrauter war als Ljubic. Ich selbst bin immer wieder überrascht, wenn andere mit meinem Namen eine nichtdeutsche Herkunft verbinden, weil ich längst aufgehört habe, sie mir zu vergegenwärtigen.

Wie aber kam es nach all den Jahren auf einmal zur Wut? Während wir in diesem friedlichen, hellen Raum saßen, meldete sich ein älterer Herr zu Wort und äußerte etwas provokant, wie er selbst sagte, den Wunsch, dass sich die deutsche Literatur doch wieder deutschen Themen widmen sollte, der Schönheit des Schwarzwaldes zum Beispiel. In seiner Wahrnehmung gehörten Autoren wie ich offenbar nicht zur deutschen Literatur, was in meinem Fall nur an meinem Namen liegen kann. Ein Autor wie Michael Kleeberg kann den Irakkrieg thematisieren, ohne dass jemand auf die Idee käme, er sei kein deutscher Autor. Wann begreift dieses Land endlich, dass Menschen mit Migrationshintergrund genauso dazugehören wie Menschen ohne Migrationshintergrund. Von jeher sind Menschen in dieses Land gekommen, die Vorfahren meiner Freundin waren Hugenotten, wie übrigens auch die Sarrazins, meine Großeltern waren Kroaten und die anderen Flüchtlinge kamen aus Schlesien. Warum führen wir immer wieder Debatten, ob wir ein Einwanderungsland sind oder nicht? Warum schätzt diese Gesellschaft Menschen mit Migrationshintergrund erst, wenn sie die Nationalmannschaft ins WM-Halbfinale schießen? Migranten bereichern diese Gesellschaft, man muss nur an all die Kinder denken, die wie selbstverständlich zwei Sprachen und Kulturen in sich haben, gerade in Zeiten der Globalisierung.

Woher auf einmal die Wut? Weil ich dachte, diese Gesellschaft sei schon weiter und diese Debatte längst überholt. Dem Anschein nach geht es nicht um Menschen wie mich, sondern um sogenannte Integrationsverweigerer, um Muslime und Kopftuchmädchen. Der Innenminister beziffert die Gruppe der „Integrationsverweigerer“ auf zehn bis fünfzehn Prozent. Diese Debatte wird geführt ohne Rücksicht auf Verluste, bei der die anderen neunzig Prozent als Kollateralschaden verbucht werden.

Auf einmal bekommt der nichtdeutsche Teil in mir eine Bedeutung, die er zuvor für mich nie hatte

Sarrazin hat Schaden hinterlassen: Enttäuschung über und Misstrauen gegenüber einer Gesellschaft, in der eine erschreckende Anzahl von Menschen offenbar nur darauf gewartet hat, dass einer den ersten Stein wirft, um sich in einen Mob zu verwandeln und ihren offensichtlich tief sitzenden Ressentiments freien Lauf zu lassen, und einen Mann, der Millionen von Menschen aufgrund ihrer Kultur und „Genetik“ als arbeitsscheu und entwicklungsunfähig bezeichnet, als Kämpfer für die Meinungsfreiheit zu feiern.

Wozu führt das alles? Es führt zum Beispiel dazu, dass auch ich mich zum ersten Mal angegriffen fühle und wütend auf einen Mann reagiere, dessen Wunsch nach deutscher Literatur ich vor dieser unsäglichen Debatte freundlich entgegnet hätte: Was ich schreibe, ist deutsche Literatur. Aber auf einmal ertappe ich mich bei dem Gedanken, er sei einer von denen, die Angst haben, die Deutschen könnten ihre kulturelle Identität verlieren, wenn es zu viele Autoren gibt, die Zaimoglu, Haratischwili oder Ljubic heißen. Auf einmal bekommt der nichtdeutsche Teil in mir eine Bedeutung, die er zuvor für mich nie hatte, weil er für mich zu einem Symbol wird für eine moderne, offene Gesellschaft, wie ich sie mir wünsche. Ich habe meinen Kindern bewusst meinen Nachnamen gegeben, obwohl sie auch den deutschen (hugenottischen) ihrer Mutter hätten haben können. Dieses Land soll sich endlich daran gewöhnen, dass Deutsche Ljubic heißen oder Özbek und dass zwischen dem Kirchenläuten der Muezzin ruft.

Wie oft hört man, dass der gute Sarrazin es ein bisschen übertrieben habe und sich das mit der „Genetik“ hätte sparen können, aber in vielem habe er sehr wohl recht! Offenbar ist der Wille groß, seinen Thesen einen Resonanzraum zu geben.

Natürlich darf man über Menschen reden, die sich dieser Gesellschaft verweigern und unsere Werte infrage stellen, aber diese Art der Auseinandersetzung führt zu nichts. Ich merke, wie schwer es mir fällt, kühlen Kopf zu bewahren, und genau das ist das Fatale an dieser Debatte, weil sie nur darauf aus ist zu emotionalisieren. Es gibt Wichtigeres, worüber wir in diesem Land reden sollten: die politische Ohnmacht der Armen, die Entsolidarisierung der Reichen und Banker, die dieser Gesellschaft einen Schaden zugefügt haben, der noch Auswirkungen auf die Kinder unserer Kinder haben wird. Und zwar auf alle, ob sie Ljubic oder Schmidt heißen.