Eine Nacht wie ein Mittag im August

BESUCH VON MINDERJÄHRIGEN Die Helden von Märchen und Mythen begeben sich in Gefahr und bewähren sich – in Bolaños „Lumpenroman“ bleiben Läuterung und Reifung aus: Das Leben geht einfach immer so weiter

Maciste ist ein Mann mit herkulischen Kräften. Das italienische Stummfilmkino mochte ihn so sehr wie die B-Movies der 60er Jahre, die Titel wie „Maciste im Kampf mit dem Piratenkönig“ oder „Zorro gegen Maciste – Kampf der Unbesiegbaren“ trugen. In Roberto Bolaños schmalem Buch „Lumpenroman“, das im spanischen Original 2001, zwei Jahre vor dem frühen Tod des chilenischen Autors, erschien, spielt er nun noch einmal eine tragende Rolle – als alter, dicker, blinder Mann, der zurückgezogenen in einem weitläufigen Haus in der Via Germanico in Rom lebt. „Sein Körper besaß die weißliche Farbe von Menschen, die nie in die Sonne gehen“, heißt es über ihn.

Maciste erhält regelmäßig Besuch von einer jungen, vermutlich minderjährigen Frau namens Bianca; sie ist die Ich-Erzählerin von „Lumpenroman“. Nachdem ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind, versucht sie sich gemeinsam mit ihrem Bruder und zwei Männern, die der „Libyer“ und der „Bologneser“ genannt werden, über Wasser zu halten. Doch weder reicht die Waisenrente noch sorgen die Gelegenheitsjobs für ein Auskommen. Die einzige Verwandte, eine Tante, verschwindet nach dem Tod der Eltern aus dem Leben der Waisen. Fortan existieren sie seltsam isoliert, unberührt von ihrer Umgebung. Bianca besucht Maciste, weil sie in seinem Haus einen Tresor vermutet. „Lumpenroman“ hält in der Schwebe, ob das kriminelle Vorhaben eine Ausrede dafür ist, sich zu prostituieren, oder umgekehrt die Prostitution als Mittel dient, den kriminellen Plan umzusetzen.

Bolaño hat die paradoxe Gabe, auf klare und anschauliche Weise eine Atmosphäre des Unwägbaren, Unbestimmten zu schaffen. Die Ich-Erzählerin verliert den Halt in der Welt in dem Maße, wie ihr das Gefühl für sich und diese Welt abhandenkommt. Einen schlagenden Ausdruck findet dieser Verlust darin, dass Nacht und Tag für Bianca ununterscheidbar werden. Über ihren ersten Besuch in der Via Germanico heißt es: „Eine Nacht wie ein Mittag im August.“ Und über die Nächte, die auf die Beerdigung der Eltern folgen: Sie „konnte nicht glauben, dass noch Nacht war, dass diese Weißglut die Nacht sein sollte“.

Wie oft bei Bolaño gehen populäre und klassische Mythen, Märchen und intertextuelle Verweise auf erfundene oder echte literarische Werke schillernde Verbindungen ein. Maciste etwa ist nicht nur der alt gewordene Darsteller und Bodybuilder, er ist auch ein Minotaurus in seinem Labyrinth oder ein König Blaubart, der junge Frauen bedroht. Sein bürgerlicher Name, Giovanni Dellacroce, verweist zudem auf den spanischen Mönch und Dichter Juan de la Cruz. In der Geschichte von Bianca und ihrem Bruder klingen Motive aus „Hänsel und Gretel“ an. Der Unterschied freilich ist einer ums Ganze: Die Helden von Märchen und Mythen begeben sich in Gefahr und bewähren sich. Bei Bolaño bleiben Läuterung und Reifung aus; das Leben geht einfach immer so weiter.

„Lumpenroman“ hat nicht das Aus- und Abschweifende, das Bolaños monumentalen Roman „2666“ kennzeichnete, das Buch ist eher wie eine einzelne Episode. Es birgt deswegen nicht weniger Könnerschaft im scheinbar fühllosen Vermessen moralischer Grauzonen. CRISTINA NORD

Roberto Bolaño: „Lumpenroman“. Aus dem Spanischen von C. Hansen. Carl Hanser Verlag, München 2010. 116 Seiten, 14,90 Euro