Aus Tradition Terminprobleme

FAMILIENFEST Als Scheidungskind kommt man an Weihnachten ganz schön rum. Schließlich wollen mehrere Väter beziehungsweise Mütter und die dazugehörigen Großeltern unter einen Hut gebracht werden

Mein Freund muss vier Tage in seinem intakten Elternhaus in der Provinz ausharren und besinnlich tun

VON LEA STREISAND

Als Kind denkt man ja immer, das muss so sein. Ich dachte zum Beispiel, wenn der Gasheizungsmonteur kommt, dann ist bald Weihnachten. Der Gasheizungsmonteur kam nämlich immer im Herbst, weil die Gamat-3000-Außenwandheizer jedes Jahr kaputtgingen. Mein Vater regte sich jedes Jahr von Neuem darüber auf. Spätestens Anfang Oktober polterte er beharrlich schimpfend durch die Wohnung und versucht „die Scheißteile“ selbst zu reparieren, was ihm aber stets misslang, woraufhin meine Mutter den Gasheizungsmonteur rief und mein Vater sich beleidigt zurückzog. Wenn die Wohnung dann warm war, gingen wir bald einkaufen.

Weihnachten ging nämlich auch im Osten schon im Oktober los. Zumindest musste man spätestens dann mit dem Pfefferkuchenzutaten-Einkaufen anfangen. Was glaubt ihr, wie aufregend es ist, in einer Mangelwirtschaft Pottasche zu bekommen! Das war fast besser als Heiligabend.

Im Grunde fand ich den Ärger mit der Heizung ja irgendwie unnötig, aber auch die Ablehnung des Unvermeidlichen kann zur Tradition werden. Und gerade Weihnachten ist schließlich der Inbegriff von Tradition. Und Familie. Und Liebe. Und Christentum.

Das mit dem Christentum habe ich zugegebenermaßen nie richtig verstanden. Zwar hatten wir eine Krippe unterm Baum, mit der ich Heiligabend spielen durfte. Ich kannte auch die ganzen Geschichten. Der Opa hat sie mir erklärt, der war nämlich Pfarrer: „Also, das Baby ist Jesus, der hat Weihnachten Geburtstag. Die Frau ist Maria, die Mama von Jesus …“ „Und das ist der Papa“, ergänzte ich und zeigte auf die Joseffigur. „Na ja“, sagte der Opa, kratzte sich am Kinn und holte tief Luft. Ich war vier Jahre alt. „Also der richtige Vater von Jesus ist Gott …“ Der Opa sagte das so langsam, als würde er einen sehr großen Stein einen sehr hohen Berg hochschieben. „Also ist Gott der Erzeuger von Jesus“, sagte ich. Der Opa hustete. „Also im Prinzip …“ Er zögerte, dachte nach, zögerte, sah mich an, fand keinen Ausweg, seufzte, zögerte und sagte erschöpft: „Ja.“ Ich brach in Triumphgeheul aus: „Maaaamaaaa,“ brüllte ich, „der Opa hat gesagt, das mit dem Jesus ist wie bei uns. Papa ist Josef und Ralf ist Gott!“ Meine Mutter sagte: „Wie bitte?“, mein Papa verschluckte sich am letzten Gänseflügel, und die Oma sah strafend den Opa an, der nur hilflos die Arme hob.

Es ist wirklich hart, zwei Väter zu haben, weil die Leute immer ewig brauchen, um zu verstehen, von wem man redet, wenn man über einen von ihnen spricht. Daran bin ich schon bei den Erzieherinnen im Kindergarten gescheitert. Die guckten dann immer nur komisch und schickten mich zum Händewaschen. Dabei war es im Grunde ganz einfach: Der eine war immer da, schlief mit Mama in einem Bett, backte Pfefferkuchen und regte sich jedes Jahr über die Heizung auf; der andere nicht. Als Kind denkt man auch, dass alles immer so bleibt, wie es ist. Wer rechnet denn damit, dass wir erwachsen werden, wer könnte ahnen, dass Eltern sich trennen, wer absehen, dass der Erzeuger plötzlich in die Patriarchenrolle wechselt, und wer bitte hätte vorhersehen sollen, dass man im Jahr 2009 nach Christus noch am 23. Dezember um zehn Uhr abends fünf verschiedene Sorten Pottasche bekommen könnte?

Jedes Jahr am zweiten Advent klebt meine Küche. Da werden Plätzchen gebacken. Jeder, der mitmacht, darf sich zwei Sorten aussuchen. Die Hälfte verbrennt und landet im Müll, der Rest wird gegessen und verteilt. Am Schluss sind alle Bäcker besoffen, und einer kotzt immer. Und dann wird Weihnachten geplant. Denn mindestens die Hälfte meiner Freunde sind auch Scheidungskinder, und die haben Weihnachten bekanntlich immer dreimal so viele Termine, weil alle Eltern ihre Sprösslinge sehen wollen, aber sich gegenseitig nicht. Und wenn da auch noch Verwandtschaft dranhängt, dann wird das Krippenspiel zum Improvisationstheater.

„Also wenn ich am 24. mit meiner Mutter zu Tante Renate gehe, dann kann ich mich am 25. mittags mit Ralf zum Essen treffen und dann zum Kaffeetrinken bei Oma und Opa sein.“ „Und wieso gehst du nicht mit deinem Vater zu den Großeltern?“, fragt mein Freund. Er ist protestantisch erzogen und hat Weihnachten noch ganz andere Probleme. Er muss nämlich vier Tage in seinem intakten Elternhaus in der Provinz ausharren und besinnlich tun. Das ist auch anstrengend. „Bist du irre?“ sage ich, „ich kann meinen leiblichen Vater doch nicht mit zu den Eltern meines Stiefvaters nehmen!“ Der Freund reibt sich die Stirn. Selbst er sieht da immer noch nicht richtig durch.

„Eine Scheiße ist das“, sagt Frieda. Sie hat nicht zwei Väter wie ich, sondern zwei Mütter, weil die eine sich irgendwann unsterblich in die Vikarin verliebt hat. In der Gemeinde, in der Friedas Vater Pfarrer war. Die Eltern haben sich seit Jahren nicht gesehen. „Im Grunde ist dieser ganze Familienzwang doch absolut hirnrissig“, schimpft die Pfarrerstochter. „Schließlich feiern wir Weihnachten die Geburt eines Mannes, der nicht nur aus relativ ungeklärten Verhältnissen stammt, sondern sogar seine Familie verlassen und seine Zimmermannslehre abgebrochen hat, um mit einem Dutzend anderer Aussteiger durch die Gegend zu ziehen und Geschichten zu erzählen. Meint ihr, der ist Weihnachten zu seinen Eltern gegangen und hat sich fragen lassen, wann er denn mal seine Freundin mit nach Hause bringe und wie er sich sein Dasein als freischaffender Prophet eigentlich so vorstelle. Ob er davon leben könne.“ Frieda schnaubt wütend. Sie ist Schauspielerin, und ihre beiden Mütter haben ihr in diesem Jahr den Unterhalt gestrichen.

Es wird noch ewig diskutiert an diesem Abend. Wir beschließen, am 25. abends noch feiern zu gehen, und irgendwer kommt noch mit Nietzsche – Gott ist tot, und wir gehen nicht hin. Nur noch zu runden Jubiläen. Das nächste Mal 2050 – was aber mehrheitlich abgelehnt wird, weil man es ja irgendwie doch mag und schön findet. Besonders, wenn kleine Kinder dabei sind.

Martha ist vier Jahre alt. Sie beginnt gerade zu verstehen, was Familie bedeutet. Vor ein paar Monaten hat sie nämlich eine kleine Schwester bekommen, was ihre junge Weltordnung ziemlich durcheinander gebracht hat. Direkt im Anschluss hat sie eine ältere Schwester bekommen. Sie ist nämlich die Tochter meines Vaters, genauer gesagt die Tochter meines geschiedenen Stiefvaters, wodurch ich eigentlich ihre Was-weiß-ich bin. Martha, ihre Mutter, unsere Schwester und unser Vater leben in Köln, aber Weihnachten kommt die Familie immer nach Berlin zu Oma und Opa. Letztes Jahr, als Martha noch keine Schwestern hatte, ist sie getauft worden, vom Opa. „Sie kann ja dann später selber entscheiden, was sie damit macht“, hat Papa gesagt.

Zu Weihnachten habe ich Martha eine grüne Gummiente geschenkt. Das war die Idee ihrer Mutter, weil Martha nicht gern badet. Dann habe ich ihr das Krippenspiel erklärt: „Und wo ist Gott?“, hat Martha gefragt. „Den kann man nicht sehen“, hab ich gesagt, „aber der ist trotzdem da.“ Martha saß eine Weile unter dem Baum und dachte nach. Dann nahm sie die Ente und integrierte sie mit den Worten: „Tuuttuut, hier kommt Gott!“ in die heilige Familie.

Die Oma guckte vorwurfsvoll, mein Vater erstickte fast, und als ich nachts vom Feiern nach Hause kam, war die Gasetagenheizung kaputt.

Manche Dinge bleiben eben doch so, wie sie sein müssen.