Freiheit, die an Grenzen stößt

FILM Asghar Farhadis Spielfilm „Elly …“ zeigt das Beziehungsgefüge einiger iranischer Endzwanziger, die zusammen Urlaub machen – bis Elly verschwindet

Wen hat die verschwundene Elly am Telefon belogen und warum?

Familienausflüge bedeuten immer auch: Ausnahmezustand. Ohne die gewohnten Alltagsstrukturen verschieben sich die Kräfteverhältnisse und Dynamiken innerhalb einer Gruppe ganz automatisch. Drei Familien (mit drei Kindern) verbringen in Asghar Farhadis „Elly …“ ein gemeinsames Wochenende am Kaspischen Meer; außerdem zwei Singles, deren Rollen zunächst unklar bleiben.

Elly ist die Außenseiterin der Gruppe, keiner der Mitreisenden kennt sie eigentlich richtig; nicht einmal Sepideh, die sie zu dem Ausflug überredet hat, weiß, wie sich später herausstellen wird, ihren vollständigen Namen. Ahmad dagegen ist ein alter Freund, aber auch seine Geschichte bleibt nur angedeutet. Man erfährt lediglich, dass er gerade aus Deutschland zurückgekehrt ist, wo er mit einer deutschen Frau verheiratet war. Die beiden sollen im Urlaub verkuppelt werden, Elly ist in Sepidehs Plan nicht eingeweiht.

Es dauert eine Weile, bis sich die Konstellationen und Namen zuordnen lassen, trotzdem kommt man als Zuschauer schnell in den Film hinein. Farhadi macht das ganz großartig, indem er seine Figuren zunächst bewusst unscharf belässt und sich auf die sozialen Interaktion konzentriert. Seine Protagonisten könnten im Grunde auch aus einem Film der Berliner Schule stammen: arrivierte End-Zwanziger-Pärchen, deren Habitus sie unmissverständlich als dem westlichen Lebenswandel zugewandt kenntlich macht. Die ausgelassenen Schreie aus den fahrenden Autos suggerieren gleich zu Beginn des Films Freiheit, die jedoch bald an ihre Grenzen stößt. Nach einer dreiviertel Stunde kommt der Film zu einem abrupten Halt, als Elly nach einem Schwimmunfall spurlos verschwindet. Und wieder ordnen sich die Konstellationen neu – die sozialen, viel schwerwiegender aber noch die moralischen, die das Soziale erst konstituieren. Ein Ausnahmezustand im Ausnahmezustand gewissermaßen.

Farhadi arbeitet in „Elly …“ effektvoll mit verschiedenen Modi und Sujets. Reduzierte man den Film auf eine knappe Inhaltsangabe, fiele einem unwillkürlich Antonionis „L’Avventura“ ein. Bei Antonioni wie bei Farhadi dient das Verschwinden einer Frau als Vorwand für eine Sinnsuche der Hinterbliebenen, Farhadi bewegt sich dabei jedoch, so scheint es zunächst, im Modus des Thrillers. Alle Aufmerksamkeit richtet sich auf die verschwundene Elly. Hat sie die Reisegemeinschaft Hals über Kopf verlassen, oder ist sie beim Versuch, eines der Kinder vor dem Ertrinken zu retten, selbst ertrunken? Wen hat sie am Telefon belogen und warum? Und wieviel weiß Sepideh wirklich über den jungen Mann, der sich als Ellys Verlobter ausgibt? Hier kippt „Elly …“ dann erneut, denn die Beschäftigung mit der Schuldfrage lenkt die Aufmerksamkeit weg von der abwesenden Elly und auf die übrig gebliebenen Mitglieder der Reisegruppe.

Farhadi ringt sichtlich um gesellschaftliche Relevanz, was seinen Film einerseits zugute kommt, weil es den Blick für die soziale Konditionierung schärft. Er schildert, wie eine vermeintlich weltoffene Gemeinschaft im Ausnahmezustand wieder in vormodernen Strukturen zurückfällt. Andererseits ist es schade zu sehen, wie „Elly …“ allmählich an Offenheit und Drive verliert. Man würde Farhadis Figuren gerne länger beim zwanglosen Miteinander zusehen, in ihr soziales Spannungsfeld eintauchen, wie es Farhadi in der ersten halben Stunde so phänomenal gelingt. Ohne die äußere Restriktionen einer Drehbuchlogik, die immer nur auf dramatische Zuspitzung hinauslaufen. Oder ohne die inneren Restriktionen einer religiös-fundamentalistischen Gesellschaft.

Am Ende scheint Farhadi selbst etwas ratlos, weil Elly dann doch noch einmal in den Film zurückkehrt, obwohl sich der zentrale Konflikt längst verschoben hat. ANDREAS BUSCHE

„Elly …“, Regie: Asghar Farhadi. Mit Golshifteh Farahani, Taraneh Alidousti u.a. Iran 2009, 119 Min.