Musikszene in Ghana: Menschmaschinen kontra Funk

Wirtschaftliches Missmanagement, Desinteresse und Revolten beraubten Ghana seines kulturellen Potentials. Doch die Not macht erfinderisch und so entsstand der Hiplife.

"Der Musikunterricht ist abgeschafft. Die Jungen wenden sich alle dem Hiplife zu." Bild: imago

Es sind diese irren Melodien. Klebrig-süße, synthetische Gesangslinien, die einem mehrstimmig aus jedem Soundsystem entgegenspringen. Und die sich beim näheren Hinhören, bleibt man einmal auf den riesigen Märkten zwischen Körben voller schwarzer Schnecken, Bergen von Pfefferschoten und Stapeln von Musikkassetten stehen, als Geist in der Maschine entpuppen. Hier singt nicht nur ein Mensch, hier singt vor allem der Vocoder. Dazwischen: schneller Rap, aus dem Fetzen von Pidgin English ragen. Darunter: programmierte Beats, sie pumpen komplexe, schnelle Rhythmen. Hiplife heißt dieser plakative Mix - und man kann ihm hier in Accras Zentrum nicht ausweichen.

Trotzdem versuche ich das zunächst. Schließlich bin ich für eine andere, europäische Vorstellung von ghanaischer Musik hierhergekommen. Ich soll eine Eminenz des Siebziger-Funk treffen. Denn wenn aus Ghana derzeit irgendetwas in unsere Breiten dringt, dann sind es dank der Afro-Retrowelle die patinabesetzten Grooves von einst. Was sich parallel zu Fela Kutis Afrobeat in den Nachbarstaaten tummelte, gewinnt in unseren Breiten nun endlich Tiefenschärfe.

Und ein Mann wie Ebo Taylor kann davon profitieren: 2009 verbuchte er im Alter von 73 Jahren seine ersten Auftritte überhaupt auf deutschen Festivals, und nun hat er mit Mitgliedern der Afrobeat Academy eine Platte gemacht, mitten in Berlin. Wie es dazu kam, will er mir an der Uni im Norden der ghanaischen Hauptstadt erzählen, wo er eine internationale Studentenschar in Gitarre unterrichtet.

Mein Taxifahrer hat Mühe, sich durch den täglichen Verkehrsinfarkt zu kämpfen. Wir stecken in einer Masse aus klobigen Geländewagen, blau-orangen Taxis und Tro-Tros, jenen Minibussen, in die sich 20 Menschen quetschen. Zwischen Hupkonzert und den auch hier wummernden Hiplife-Rhythmen balancieren Verkäufer Zuckerrohr, Chips aus Kochbananen, Sonnenbrillen und DVD-Raubkopien. Endlich passieren wir eine Sicherheitssperre und flitzen in eine großzügige Parklandschaft hinein.

Die Legon-Universität zählt zu den besten Afrikas. Ein Lüftchen fegt hier durch die feuchte Hitze, gemächlich schlendern die Studenten umher, die Lautstärke ist gedämpft. Das Department of Music liegt am Rande des Campus, hat mit seinen niedrigen Langhäusern fast dörflichen Charme. Ein Durcheinander von Trommelrhythmen und westlichen Tonleitern dringt ans Ohr. Im Innenhof sitzt Taylor in einem blauen Dashiki-Gewand. Seine Wurzeln liegen in der Fante-Region im zentralen Süden Ghanas, wo er schon als Kind die Palmwine Music hört, eine in den Hafenkaschemmen gespielte Vorform des späteren Highlife. Als Ghana 1957 seine Unabhängigkeit erklärt, formt er in Kumasi, der Kapitale der Ashanti-Region, seine erste eigene Band, beeinflusst vom Bigband-Swing. Parallel entdeckt er die Jazzgrößen Miles Davis, John Coltrane, Archie Shepp.

"Damals schon versuchte ich, Highlife und Jazz zu verweben, aber es geriet immer sehr jazzlastig", erinnert er sich. Eine einmalige Chance, seine Experimente zu vertiefen, beschert ihm Ghanas Premier Kwame Nkrumah, dessen erklärtes Ziel es ist, einheimische Musiker durch Auslandsaufenthalte zu fördern. Taylor geht 1962 nach London. "Ich diskutierte dort oft mit Fela Kuti darüber, wie wir den Highlife weiterentwickeln könnten. Irgendwann realisierte ich, dass unsere Musik seit der Kolonialisierung sehr nach Dur klang, ganz im Gegensatz zu der unserer Vorfahren. Ein Weg, da wieder rauszukommen, war der Funk." Ihn koppelt Taylor - zurück in Ghana - als Bandleader und Solist mit der alten Musik der Küstendörfer und der Kriegerkaste, schwingt sich zum Produzenten der wichtigsten Labels wie Essiebons auf. Bis heute ist er dem Afrofunk treu geblieben.

Als der Berliner Musiker Ade Bantu 2008 mit seiner Afrobeat Academy in Accra konzertiert, ist Altmeister Taylor restlos begeistert, nicht zuletzt, weil auch zwei seiner eigenen Nummern im Repertoire der Berliner auftauchen. Man setzt sich zusammen, Taylor entwickelt neue Songs und die deutsche Botschaft finanziert eine Aufnahmesession an der Spree. "Love And Death" heißt das Ergebnis. Sozialkritische Kommentare, das Anprangern der Verwestlichung und auch ein Kinderreim sind da zu finden, nebst einem unverhohlenen Lobgesang auf die Physis der afrikanischen Frau. Und auch das Loblied des ersten Staatsführers wird noch einmal angestimmt. "Nkrumah wird immer mein Idol bleiben. Es ist eine Schande, dass bis zur heutigen Regierung sich niemand mehr um die Kultur in diesem Land kümmert", schimpft Taylor. "Der Musikunterricht ist abgeschafft, wir haben einen richtigen Analphabetismus heute. Kein Wunder, dass sich die Jungen alle dem Hiplife zuwenden."

Taylor hat recht: Auf dem Rückweg in die Stadt tauche ich wieder sofort ein in seine Domäne. Das Massenphänomen Hiplife analysiert für mich ein Mann, der Taylor an die Uni geholt hat. John Collins, Dekan des Musical Department und seit Jahrzehnten am Puls der ghanaischen Kulturgeschichte, residiert in seinem unscheinbaren Highlife-Archiv am Stadtrand und erläutert: "Die Hiplife-Generation hatte keine Vorbilder mehr im Land, die waren nach Deutschland oder Kanada weggegangen. Mit Gitarren kamen sie nicht in Berührung. Konsequenterweise wandten sie sich also den Maschinen zu. Es gab in Ghana keine romantische Revolution in der Musik - man sprang ohne Vermittlung von den Alten direkt in die Moderne."

Der historische Hintergrund in Kurzform: Wirtschaftliches Missmanagement und kulturelles Desinteresse der Nkrumah-Folgeregimes, Revolten, mehrjährige Ausgangssperren und Dürre beraubten Ghana seines kulturellen Potenzials, die Kreativkräfte gingen ins Exil.

"Hiplife entstand also, da die populäre Musik ausgestorben war", führt Collins weiter aus. "Die frühen Hiplifer haben einfach den US-amerikanischen HipHop in die einheimischen Sprachen Twi oder Ga übertragen, aber den musikalischen Inhalt nicht afrikanisiert, die amerikanischen Beats wurden beibehalten." Reggie Rockstone, der den Begriff Hiplife Mitte der Neunziger erfand, gab freimütig zu, dass das Genre nicht viel mit dem Highlife zu tun hatte. Ein Marketingschachzug, der den Ghanaern durch den verwandten Namen etwas Heimisches vorspiegeln wollte. Mit Erfolg: Hiplife dominiert heute die Radiostationen, die Nightclubs, die Werbespots für Bier und Kaffee, politische Parteien streiten im Wahlkampf gar um die Rechte an bestimmten Songs.

In den letzten Jahren allerdings hat sich Hiplife den melodieseligen, süßlichen Gesangslinien des Highlife angenähert, wird mit handgemachter Percussion und traditionellen Rhythmen aufgeladen. Kostproben dieses "Contemporary Highlife", wie dieses Amalgam nun genannt wird, bieten aktuell Musiker wie Obour, Kwabena Kwabena oder Ofori Amponsah, der in Düsseldorf bei Bodo Staiger, dem Exleader der Neuen Deutschen-Welle-Band Rheingold produziert. Der Vocoder ist vorerst noch vonnöten, um die unausgebildeten Stimmen zu korrigieren. Doch es zeichnet sich ab, dass die Frauen aus der Gospelnische nun in die einstige Machowelt des Hiplife drängen - und die verfügen über exzellentes Vokalvermögen.

Ist Ghanas Musikszene also endlich wieder im Aufwind? Der Webjournalist Ameyaw Debrah sieht eine Bedrohung aus der Nachbarschaft: "Die expandierende nigerianische Musikindustrie ist eine große Konkurrenz, sie verfügt über große finanzielle Mittel, mit denen sie auch ins hiesige Radio kommt", meint er. "Die Konsequenz ist, dass unsere Leute versuchen, den R&B aus Nigeria nachzuahmen, um mithalten zu können. Aber die Musik Nigerias ist sehr verwestlicht, verzichtet auf afrikanische Instrumente. Das kostet uns unsere Identität." Mehr Künstler, die ihren Wurzeln treu blieben, bräuchte Ghana, und die hätten dann auch international mehr Erfolg.

Im Headquarter des progressiven Hiplife pfeift man hingegen auf Wurzeltreue. Panji Anoff, Boss von Pidgen Music, äußert Prophezeiungen, die manchen europäischen Hörer, der noch aus der Weltmusikära kommt, unangenehm treffen könnten. "Hiplife wurde als Teil eines Anti-World-Music-Zyklus geboren, der sich in vielleicht 20 Jahren vollenden wird. Bassekou Kouyate oder Amadou & Mariam, die Stars bei euch, haben keine gesamtafrikanische Relevanz, niemand spielt ihre Musik auf der Straße. Unser Hiplife, der in Ghana schon alle Medien, jegliches soziale Ereignis bestimmt, wird in Europa eines Tages mehr Bedeutung haben als die sogenannte Weltmusik. Denn er verkörpert die urbane Realität." Wie dieser demnächst global relevante Hiplife sich anhören könnte, dafür gibt es in Panji Anoffs eigener Produktionsschmiede Paradebeispiele: Der rumänisch-ghanaische Straßenpoet Wanlov The Kubolor verknüpft traditionelle Instrumente mit Samples, HipHop, Afrobeat und Gypsy-Kultur, ein Youngster namens M3nsa kreiert Kollagen zwischen Hiplife, HipHop und Urban Soul.

Ob Orientierung an den Vorfahren oder kreative Auslotung der Moderne - Accras Klangkulturen haben die Lethargie überwunden. Optimist ist auch John Collins, der vor zehn Jahren noch den Tod der ghanaischen Musik kommen sah. "Doch jetzt ist die Jugend von der sterilen Technologie übersättigt, sie haben die Sackgasse erkannt. Freestyling, Poetry, das entwickelt sich jetzt wieder, auch durch die vielen Kinder von wohlhabenden Exilghanaern, die heimkehren und eine exzellente Erziehung erfahren haben. Das hat auch zur Folge, dass Oldtimer aus dem Highlife und Afrofunk wie Ebo Taylor nun auch hier wieder eine Wertschätzung erfahren. Die gekappte Verbindung zwischen den Generationen wird wiederhergestellt."

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