DER LETZTE GROSSE ÖSTERREICHER
: Kreisky, der Ungespinte

Knapp überm Boulevard

ISOLDE CHARIM

Wien erliegt derzeit einem Kreisky-Fieber, dem sich auch die Autorin hemmungslos hingibt. Die Erinnerungen an den legendären Bundeskanzler aus Anlass seines 100. Geburtstages sind regelrecht Kult. Fernsehen, Radio, Zeitungen gehen über. Seit einer Woche jagt eine „Kreisky 100“-Veranstaltung die nächste, jede ist brechend voll. Was treibt die Leute in Scharen dahin? Woher speist sich diese Faszination, immer noch?

Der Jahrestag bietet die Gelegenheit, sich an eine Zeit des Aufbruchs und der Modernisierung zu erinnern und an jenen Mann, der diese in Österreich ermöglicht hat. Die Faszination rührt von der Diskrepanz zur Gegenwart her. Statt wirklicher Bewegung haben wir heute nur eine auf Dauer gestellte Erregung. Und Kreisky selbst war in allem das genaue Gegenbild zu dem, was Politiker heute sind, ja sogar zu dem, was Politiker heute sein wollen. Er war unglaublich souverän. Gut, das will der eine oder andere vielleicht auch heute noch sein. Aber bereits beim nächsten Charakteristikum setzt die Vergleichbarkeit aus. Kreisky war gebildet. Wann hat man zuletzt Intellektualität als Vorzug eines Politikers ins Treffen geführt?

Aber das Faszinierendste an Kreisky war seine Art zu reden: er sprach völlig ungespint. Kann man sich das bei einem Politiker heute überhaupt noch vorstellen? Das waren echte Worte, echtes Reden. Auch Unangenehmes, oft schlechte Nachrichten, aber niemals Worthülsen. Das machte ihn so authentisch – ob er mit Bauern sprach, mit Künstlern oder mit Studenten. Wenn eben dies die Menschen aber noch heute fasziniert, auf welch falschem Dampfer sind dann all jene Politiker, die nur noch gecoachte Sprechblasen ablassen? Man sollte all ihre NLP-Schulungen streichen und durch Archiv-Material-Schauen ersetzen. Da würden sie auch sehen, dass die Größe eines Politikers an seiner geistigen Offenheit liegt. Das wäre doch eine echte Neuigkeit: Kleinmut ist nicht die politische Kategorie par excellence!

Diese Offenheit hatte auch eine institutionelle Entsprechung: Kreisky öffnete die sozialdemokratische Partei und lud Querdenker, Experten und Neugierige ein, „ein Stück des Weges gemeinsam“ zu gehen (wie der berühmte Slogan lautete). Offenheit, das ist das Zulassen von anderem und anderen – sogar von Parteiunabhängigen. Es ist der Abschied von der Partei als monolithischem Block.

Die geistige Grundlage dafür war ein Wille zur Modernisierung im Sinne des Abbaus von Autoritäten. Ein heute unvorstellbares Paradoxon: der Kanzler als Triebkraft zur Demokratisierung aller Lebensbereiche – der Bildung, der Familien, der Frauenrechte, der Justiz. Ein Paradoxon, das andere nach sich zog. So erzählte der Schriftsteller Robert Menasse bei seiner Festrede, wie er sich als damals trotzkistischer Student über Kreiskys Wahlsieg freute. Linksradikale identifizierten sich mit dem Kanzler!

Kreisky hat auch die künstlerische Erneuerung befördert. Anfang der 1970er regte er eine Ausstellung österreichischer Avantgarde in New York an, die letztlich nicht zustande kam. Zu dieser gescheiterten Veranstaltung fand dieser Tage eine äußerst erfolgreiche Veranstaltung statt: ein Diskussionsabend im Burgtheater. Voll bis auf den dritten Rang! Der Burgdirektor betonte dabei, er hoffe, den Spagat zwischen Staatstheater und Avantgarde zu schaffen. An dieser Hoffnung wird die Differenz zum Kreisky’schen Paradoxon vielleicht am deutlichsten: Wenn der Burgdirektor auch Avantgarde sein will, dann wird Avantgarde – in einer Zeit, wo Provokation die Form geworden ist, in der man sich künstlerisch integriert – zu einem chicen Disktinktionsmerkmal, zu einem Mehrwert, den man auch noch mitnehmen möchte. Kreisky hingegen wollte und hat die Gesellschaft verändert. Er trat gegen die Zählebigkeit der Blasmusik an.

Heute jubelt man Kreisky in Wien zu, weil die politische Gegenwart so wenig Anlass dazu gibt. Er ist die Folie, vor der sich die aktuelle politische Trostlosigkeit so deutlich abzeichnet. Und wenn man sieht, wie seine Öffnungen nun Schritt für Schritt zurückgebaut werden, dann muss man André Heller recht geben: Dass dieser Mann in diesem Land Bundeskanzler werden konnte, war ein Irrtum. Ein Betriebsunfall.

■ Isolde Charim ist freie Publizistin und lebt in Wien