Der zärtliche Schäferhund

SONGWRITER Sam Beam, der zauseligste Vollbart des Folkrock, hat ein neues Iron-and-Wine-Album aufgenommen

So hauchzart hat schon lange niemand mehr über Millionärs-Urin gesungen

Echte Fans sind häufig intolerant, gerade was das Folkgenre anbelangt. Als Bob Dylan begann, seine bis dahin fast ausschließlich mit akustischer Gitarre und Mundharmonika vorgetragene Musik elektronisch zu verstärken und von einer Band begleiten zu lassen, wurde er 1965 von aufgebrachten Fans beim Newport Folk Festival von der Bühne gebuht und als Verräter betrachtet.

Ganz so dicke wird es für Rauschebart Sam Beam, seines Zeichens Mastermind der US-Folkband Iron and Wine, wohl nicht kommen. Blickt man allerdings auf dessen bisheriges Oeuvre, mutet Dylans Wechsel zur E-Gitarre geradezu wie ein Kinderstreich an. Die ersten Iron-and-Wine-Alben entstanden vor zehn Jahren noch auf Beams Bettkante und waren schüchterne, reduzierte und dennoch äußerst eindringliche Kleinode. Eine zarte Abkehr von Beams musikalischer Zurückhaltung ließ sich dann spätestens auf dem 2007er Album „The Shepherd’s Dog“ heraushören, auf dem plötzlich Jazz- und Dub-Anleihen zwischen Beams Singer-Songwritertum ertönten.

Letztlich gewannen die Lieder des heute 36-Jährigen mit jeder Veröffentlichung an Komplexität. Die konsequent auf die Spitze getriebene Fortsetzung dieses Wegs stellt das neue Album „Kiss each other clean“ dar. Der frühe Sam Beam ist hierauf fast gänzlich in den Hintergrund gerückt: Wo einmal zerbrechlicher Akustikfolk zu hören war, swingt heute ein Flickenteppich aus Indietronica, Jazz, Blues, Funk, afrikanischen und jamaikanischen Rhythmen aus den Boxen. Einzig seine samtweiche Stimme und den Hang zu ungewöhnlich poetischer Bildsprache hat Beam zu den neuen musikalischen Ufern herübergerettet.

An diesen warten nun aber unter anderem Synthesizer, Bläser, eine Orgel, ein Saxofon und ganz viel Chorgesang auf ihren Einsatz. Den Übergang von den alten zu den neuen Iron-and-Wine-Klängen legt Beam zum Auftakt des Albums noch recht sanft an. Die Eröffnung bildet „Walking Far From Home“, das lyrisch vielleicht interessanteste Stück der Platte. Hierin erzählt Beam in dylanesken Bildern von der Gegensätzlichkeit der Welt: „I saw flowers on a hillside and a millionaire pissing on the lawn“ oder „I saw sickness bloom in fruit trees“. Beams Songlyrik wird getragen von einer Orgel und einem sanften Backgroundchor – die nächste Verbindungslinie zwischen dem Reinen und dem Schmutzigen, dieses Mal auf musikalischer Ebene. So hauchzart hat schon lange niemand mehr über Millionärs-Urin gesungen.

Im weiteren Verlauf der Platte schmeißt Beam seine Folkwurzeln dann fast gänzlich über Bord. Ein Highlight dieser rücksichtslosen Klangspielerei stellt die Nummer „Big Burned Hand“ dar, die aus einem Reggae-Groove hervorgeht und diesen mit Saxofon und elektronischem Gefrickel garniert. Gleichzeitig gerät Beam gefährlich nahe an die Grenze zur weichgespülten Glätte: Die Ballade „Godless Brother in Love“ treibt die Gefühlsduselei mit Harfe und Klavier so sehr auf die Spitze, dass man fast ein schlechtes Gewissen bekommt, wenn einem die Tränen nicht sogleich über die vor Erregung glühenden Wangen laufen.

Sam Beam ist im Verbund mit Produzent Brian Deck (der schon Bands wie Modest Mouse und Gomez den Feinschliff verlieh) ein perfekt durchkomponiertes Album gelungen, das Klangschicht über Klangschicht packt und sich in polyrhythmischen Details gefällt. Aber mit den musikalischen Gratwanderungen und melodisch perfekten Arrangements verliert der Sound von Iron and Wine auch erheblich an Dringlichkeit. Zwar macht „Kiss each other clean“ deutlich, wie sich der ehemalige Eremit Sam Beam zum ernstzunehmenden Künstler entwickelt hat. Dennoch ist es bei zu viel artifiziellem Fortschritt manchmal ganz praktisch, nostalgisch an die guten alten Zeiten zu appellieren und ein wenig intolerant zu sein.TOBIAS NOLTE

■ Iron and Wine: „Kiss each other clean“ (4AD/Beggars Group/Indigo); live: 7. 2. Hamburg, 8. 2. Berlin, 9. 2. Köln, 11. 2. München, 14. 2. Frankfurt am Main