MICHA BRUMLIK ÜBER GOTT UND DIE WELTMEISTER KUNG, CALVINISTISCHE MOGELPACKUNG UND KONFUZIUSINSTITUTE
: Amy Chua und die Angst des Besitzbürgers

Kurt Georg Kiesinger – weiß eigentlich noch jemand, wer das war? War es doch dieser CDU-Politiker, Kanzler der ersten großen Koalition 1966–1969, ehemaliges NSDAP-Mitglied und Mitarbeiter in der Rundfunkabteilung des Reichsaußenministeriums, der schon damals gewarnt hatte: „Ich sage nur: China, China, China!“ Damals lebte Mao Zedong noch und China lag – durch die Kulturrevolution ruiniert – ökonomisch am Boden.

Einige Jahrzehnte später gruseln sich von Präsident Obama bis zum Spiegel westliche Meinungsmacher vor der aufstrebenden Wirtschaftsmacht und rufen dazu auf, im Kampf gegen China zu bestehen. Die von einer autoritären kommunistischen Partei geführte kapitalistische Supermacht richtet nicht nur Olympische Spiele aus, sondern wirbt im Westen subtil für ihre nicht mehr kommunistischen, sondern traditionalen Werte. An mehr und mehr Universitäten entstehen so von der chinesischen Regierung subventionierte „Konfuziusinstitute“, die für die Weisheit und Tugendkataloge von „Meister Kung“ werben.

Kein Zufall, sondern kluge Verlagsplanung war es also, dass ausgerechnet nach dem Besuch des chinesischen Präsidenten in Washington ein Buch erschien, das die ohnehin verunsicherte US-amerikanische Nation weiter beunruhigt: Amy Chuas „Schlachtruf einer chinesischen Mutter“, einer US-amerikanischen Bürgerin, in dem sie bekennt, wie sie ihre Töchter bedrohte und drangsalierte, damit sie Geige spielen lernen.

In Deutschland ist das Thema der pädagogischen Sache nach seit Bernhard Buebs „Lob der Disziplin“ schon durch, interessanter wird der Hype als Symptom einer nicht ganz neuen westlichen, das heißt besitzbürgerlichen Angst vor der Dekadenz, für die immer neue Ursachen gesucht werden. Hierzulande war es Guido Westerwelle, der den nachsorgenden Sozialstaat mit „spätrömischer Dekadenz“ assoziierte, dann schob Thilo Sarrazin die Schuld am drohenden Niedergang Deutschlands ungenügend integrierten muslimischen Immigranten zu und jetzt fragt man sich im Westen verunsichert, ob wir am Ende von den Chinesen mit ihrer neuen protestantischen, nein konfuzianischen Ethik überflügelt werden.

Damit wird ein Thema variiert, das im Westen spätestens seit Edward Gibbons monumentalem, kurz vor der Französischen Revolution erschienenem Werk über den Untergang des Römischen Reiches immer mal wieder Konjunktur hat. Tatsächlich handelt es sich jedoch nach wie vor nur um die Stimmungen eines von Abstiegsängsten notorisch geplagten Bürgertums. Über Weihnachten konnte man sich hier dem Thema bei der Ausstrahlung von Heinrich Breloers „Buddenbrooks“-Verfilmung überlassen. Unvergesslich die Szenen, in denen der unnütze Bruder Christian, ein notorischer Versager, Hypochonder und Müßiggänger seinen Kumpeln die Geschichte des englischen Büroangestellten Johnny Thunderstorm erzählt, der in der Hitze Brasiliens seinem aufgebrachten Chef auf die Frage, ob er denn nicht arbeite, einfach ins Gesicht gesagt habe: „No, Sir!“ Christian kommentiert das im Film immer wieder bewundernd: „Ein unglaublicher Nichtstuer!“

In den USA, wo man besser nicht von „Holidays“ sprechen soll, sondern kommerziell korrekt von „PTO“ („payed time off“) und man – wenn überhaupt – den Spruch „Holiday is for whimps“ („Urlaub ist was für Schwächlinge“) bemüht, musste Chuas Buch den calvinistischen Phantomschmerz verstärken. Und nicht nur den calvinistischen: Vor Jahren schon beobachteten jüdische Magazine mit Sorge, dass Studenten aus Ostasien im Leistungsbereich jungen Juden an den Universitäten den Rang abliefen. Während Samuel Huntington noch die katholischen Hispanics mit ihrem angeblichen Schlendrian für den Leistungsabfall der Nation verantwortlich machte, wird jetzt – Identifikation mit dem vermeintlichen Aggressor – Meister Kung als Allheilmittel gepriesen. Die damit verbundenen offenen Fragen bleiben freilich unbeantwortet: Warum in China eigentlich eine Revolution gegen die alte, die konfuzianische Ordnung ausbrach und warum die konfuzianische Lehre im Kaiserreich den notleidenden und (ver)hungernden chinesischen Bauern nicht geholfen hat.

Überhaupt ist völlig unklar, wie viel China, wie viel Meister Kung in dem, was die Amerikanerin Chua als Erziehungskonzept preist, überhaupt drin ist. Tatsächlich wird hier eine Mogelpackung präsentiert: eine drakonische protestantische Ethik nämlich, wie sie in Michael Hanekes „Weißem Band“ noch einmal eindrücklich gezeigt wurde, wird als Ausdruck kosmischer Weisheit aufgeputzt. Allerdings: Genauere Lektüre ihres Meisters Kung hätte Amy Chua eine Menge Ärger mit ihrer Tochter ersparen können. „Durch Bildung“ so Meister Kung „verschönert der Mensch sein eigenes Ich. Er schämt sich nicht, zu lernen und zu fragen. Fragen und Forschen sind die Wurzeln des Wissens, Denken und Nachsinnen der Weg.“ Dass das tatsächlich so ist und dass sogar Kinder das ganz von sich aus können, hätte sich ruhig bis Harvard herumsprechen dürfen.

■ Der Autor ist Publizist und Professor an der Uni Frankfurt am Main