Wirksamer als hundert Flugschriften

GESELLSCHAFTSKRITIK Das politische Potenzial des Traums bei Gustave Courbet: Eine Erwiderung des Kurators Klaus Herding auf die Kritik von Isabelle Graw an der Schau „Ein Traum von der Moderne“ in Frankfurt

Courbets surreale Fantasie einmal in den Vordergrund zu rücken, das tat not

VON KLAUS HERDING

Gustave Courbet war einer der politisch engagiertesten Künstler. Daran habe ich nie Zweifel gelassen, habe ich doch die Quellen dafür selbst zusammengetragen. Die Frankfurter Ausstellung hat das in tieferem Sinne bestätigt. Wieso sie auf eine „Entschärfung seines Projekts“ hinauslaufen soll, wird aus Isabelle Graws Beitrag nicht ersichtlich. Das Verständnis von Courbets poetischer Traumwelt schwächt nicht, sondern bekräftigt den realistischen Impuls, weil es auch die psychischen Bedingungen des Menschen einbezieht. Da wird nichts weggenommen – es kommt etwas hinzu.

Courbet hat die Sache der Entrechteten, der Unbehausten, der Einsamen zu seiner eigenen Sache gemacht. Sind das etwa „Individualfantasien“? Die Frankfurter Ausstellung war die erste, welche „Die Zigeunerin“ gezeigt hat, ein Bild, in dem Courbet Elendsgestalten darstellt, die über aufgerissene Wege unter einem fahlen Himmel unstet dahinziehen. Dass dies trotzdem ein Bild von hoher Poesie ist, in das auch der Traum von Gerechtigkeit und Geborgenheit einfließt, schadet dem sozialen Engagement so wenig wie bei Dostojewski oder Zola – es zeigt nur, dass Malerei und Dichtung nicht die Sklaven vorgegebener Protestparolen sind, sondern ihre eigenen Wege gehen. Friedrich Engels hat von einem sozialkritischen Gemälde gesagt, es sei wirksamer für den Sozialismus als hundert Flugschriften. Warum? Weil ein Kunstwerk über den bloßen „Text“ hinausgeht und auch die emotionale Seite des Menschen gestaltet.

Immer wird es Widerstand auslösen, wenn man eine neue, vielschichtigere Deutung versucht. Isabelle Graw wendet sich gegen das „Erträumen anderer Verhältnisse“. Aber genau darum geht es – darum, mit der Waffe des Künstlers, mit der Fantasie, die Baudelaire und Cézanne an Courbet rühmten, eine neue, bessere Welt, eine freie Malerei in einer befreiten Gesellschaft herbeizuträumen; das ist der Punkt! Eine Malerei zu schaffen, die auch dem ein Recht gibt, der nicht aufgeht in Planerfüllung oder Gewinnmaximierung, sondern verweilt, sich versenkt, im Träumen neue Energien gewinnt, der langsam und bedächtig voranschreitet – das war ein wichtiges, lange unterschätztes Ziel Courbets. Die Fülle der nach innen gewandten Porträts zeigt das ebenso wie die große Anzahl träumender Gestalten – keineswegs nur Frauen, wie Graw schreibt, sondern auch viele Männer, vier allein in dem großen Traumbild „Nach dem Essen in Ornans“, und vor allem der Künstler selbst in seinem „Selbstbildnis mit der Pfeife“ oder seinem „Selbstbildnis als Verwundeter“, zwei Schlüsselbildern der Ausstellung.

Versenkung als Potenzial – das ist ein wesentliches, bisher unterdrücktes Element, auf das die Ausstellung hinweist. Die berühmte „Begegnung“ ist tatsächlich ein Tagtraum, ein Wunschbild, ein Lebensentwurf, der nach Realisierung drängt. Zu „wenig“ ist das nur, wenn man den Grund und das Ziel dieser Tagträumerei außer Acht lässt: Dargestellt ist eine Vision voller Tatendrang, voller Zukunft. Der Maler träumt davon, als Avantgardist das Verhältnis zwischen Künstler und Auftraggeber zu seinen Gunsten umzukehren und den Platz an der Spitze der Gesellschaft einzunehmen, wie es in der Französischen Revolution schon propagiert, aber nicht realisiert wurde. Dieser politische Horizont wird bei Graw ebenso unterschlagen wie die Tatsache, dass ich das Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit nicht etwa verschwiegen, sondern in Wandtext und Katalog deutlich herausgestellt habe.

Graw fixiert sich auf das vermeintlich Individualistische, das sie dann überall korrigieren zu müssen glaubt. Dabei verkennt sie gerade das gesellschaftskritische Potenzial, das in den Bildern steckt. Courbet war zweifellos ein Individualist hohen Grades. Das Wandern, das Schwimmen, die Jagdleidenschaft zeugen davon. Aber enthalten die Landschaften nicht auch den Holzfäller, der die morschen Bäume der Vergangenheit abholzt – ein Topos subversiver Malerei? Enthalten nicht die Wogenbilder ein hohes Maß an Widerstandspotenzial, so dass sie schon von den Zeitgenossen als Barrikaden verstanden wurden? Hat Courbet sich nicht in den Jagdbildern mit der verletzten Kreatur identifiziert, so dass in diesen Gemälden verdeckte Selbstbildnisse erkannt worden sind, die heftige Kritik an der kaiserlichen Herrschaft üben?

In all diesen Bildern drückt sich mit Traum und Alptraum zugleich der Schrei nach Gerechtigkeit aus, nicht nur in der irischen Bettlerin des Atelierbildes. Aber gerade das „Atelier des Malers“, Courbets Hauptwerk, ist ein einziges Traumbild. „Kein Realist malt so“, schrieb Werner Hofmann schon vor 50 Jahren. Courbet geht über den Realismus weit hinaus, indem er Imagination und Passion überall zulässt. Das ist kein „Nebenaspekt“, sondern ein Fundament von Courbets künstlerischer Wirkung bis heute. „Wie eine Symphonie hallen seine Werke in uns nach“, schrieb de Chirico. Behalten wir, mit Freud, das politische Potenzial des Traums im Bewusstsein (und hüten wir uns, die Beschäftigung damit als „eskapistisch“ zu diffamieren). Auch der gegen mich angeführte T. J. Clark denkt heute so.

Über Courbets hellsichtigen Realismus und den Gesellschaftsbezug seiner Werke haben viele Autoren das Notwendige gesagt. Es tat wirklich nicht not, dies zu repetieren oder zu verabsolutieren, wie Isabelle Graw das wünscht. Nur nichts Neues, scheint sie zu rufen. Doch, Courbets surreale Fantasie, seine tiefgründige Symbolik, seine vom Schwarz her experimentierende, vom Gegenstand abstrahierende Farbgebung – allesamt Elemente, die jedweden Realismus hinter sich lassen –, das einmal in den Vordergrund zu rücken tat not. Das alles stärkt das Verständnis der gesellschaftskritischen Dimension. Auch für heutigen Realismus geht es darum, das hinter den Dingen Liegende sichtbar zu machen. Für eben dies Hintergründige hat die Frankfurter Ausstellung weit über 100.000 Besuchern die Augen geöffnet.

■ Klaus Herding ist der Kurator der Ausstellung „Courbet – ein Traum von der Moderne“ in der Frankfurter Schirn. Er reagiert mit dieser Erwiderung auf Isabelle Graws Resümee der Schau, das am 24. Januar in der taz erschien. Isabelle Graw, Herausgeberin der Zeitschrift Texte zur Kunst, kritisierte, die Schau würde Courbet zu verabsolutiert als „eskapistischen Träumer“ zeigen, „was den expliziten Gesellschaftsbezug seiner Bilder in den Hintergrund rückt“.