Von dieser Welt

EMANZIPIERT Die französische Schauspielerin Annie Girardot ist am Montag in Paris gestorben

Es findet sich als mehr oder weniger charmant ausgedrückte Umschreibung in fast allen Texten über sie: Annie Girardot, 1931 in Paris geboren, ragte unter den weiblichen Schauspielstars ihrer Zeit, der 60er und 70er Jahre, durch „Unscheinbarkeit“ heraus. Sie war kein Glamourgeschöpf wie Catherine Deneuve, hatte nichts vom „Sex-Kätzchen“-Charme der Bardot und auch nicht die sphinxhafte erotische Ausstrahlung von Jeanne Moreau. Nein, Annie Girardot war viel mehr von dieser Welt. 1979 wurde sie noch vor Alain Delon, Jean-Paul Belmondo und Romy Schneider zur beliebtesten Schauspielerin der Franzosen erklärt. Da ging sie bereits auf die 50 zu und hatte in annähernd 100 Filmen gespielt, die in Genre und Qualität ein weites Spektrum beschreiben. Von Luchino Visconti bis Claude Lelouch war sie von den wichtigen Regisseuren ihrer Zeit besetzt worden – mit einigen kränkenden Ausnahmen wie zum Beispiel François Truffaut. Was man sicher mit ihrer vermeintlichen „Unscheinbarkeit“ erklären kann: Für den Truffaut'schen Kosmos war Annie Girardot trotz ihrer Zierlichkeit zu robust, zu bodenständig, man könnte auch sagen: zu emanzipiert. Im Lauf der Zeit wurde sie zu einer Leinwandikone des Feminismus. Der Kurzhaarschnitt, den sie in den 70ern endgültig zu ihrem Markenzeichen machte, mag seinen Teil dazu beigetragen haben, genauso aber ihr quecksilbriges Temperament, das keine Mannequin-Posen erlaubte, vor allem aber die Aura der Selbstständigkeit, die sie wie keine andere ausstrahlte. Kein Wunder also, dass man sie gerne als berufstätige Frau besetzte und deren moderne Ambivalenzen verkörpern ließ.

Tatsächlich begann die 1931 in Paris Geborene nach der Schule zunächst eine Ausbildung als Krankenschwester, bevor sie sich der Schauspielerei zuwandte. Als ihre erste große Kinorolle gilt 1960 die der Prostituierten Nadia in Luchino Viscontis „Rocco und seine Brüder“. Da ist sie noch ganz als französischer Frauentyp besetzt: eine aparte Mischung aus Eros und Melo und im Übrigen alles andere als „unscheinbar“. Um sie in einer Rolle zu erleben, in der Girardot weit mehr „bei sich“ ist, muss man sich ein wenig abseits der kanonisierten Filmgeschichte bewegen und zum Beispiel zu Claude Lelouchs „Der Mann, der mir gefällt“ greifen. Schon wie sie da lächelnd neben Belmondo im Flugzeug sitzt, in ärmelloser, aber hochgeschlossener Bluse, begreift man, dass ihr Sex Appeal mit einer fast irritierenden Leichtigkeit einherging. Später im Film zieht sie sich während einer Cabriofahrt durchs „Monument Valley“ provozierend die Bluse aus – um gleich darauf Belmondo eine lange Nase zu zeigen.

Alles erstickende Mutter

Sowohl im persönlichen als auch im geschäftlichen Leben musste Girardot einige schwere Krisen überstehen, die sie zwischendurch ganz vom Kino wegbrachten. Ihre letzten großen Auftritte hatte sie bei Michael Haneke. Als alles erstickende Mutter in „Die Klavierspielerin“ ließ sie 2001 das Publikum darüber staunen, wie eine so kleine, zarte Person zugleich ein solches Monstrum an Übergriffigkeit sein kann. In „Caché“ (2005) spielt sie eine mildere, aber fast noch abweisendere Version davon. Kurz darauf, 2006, wurde bekannt, dass Girardot an Alzheimer erkrankt war. Am vergangenen Montag starb sie in einem Pariser Krankenhaus, im Alter von 79 Jahren. Friedlich, wie es heißt.

BARBARA SCHWEIZERHOF