Filmstart "The Tree": Besessen von einem Baum

Über tausend Bäume schaute sich die Regisseurin Julie Bertucelli an, bis sie den einen Feigenbaum fand, der nun Hauptfigur von "The Tree" ist.

Trauern in den Ästen des Feigenbaums: Mutter und Tochter. Bild: baruch rafic/pandora film/les films du poisson/taylor media

Das Sympathischste an diesem Film ist, dass er so sehr von einem Baum besessen ist. Im Abspann werden die Scouts aufgelistet, die sich auf Baumsuche begeben mussten. Mehr als tausend Bäume wurden gesichtet, so die Regisseurin, bis sie den richtigen gefunden hatten, das heißt, es wurden mehr Bäume als Schauspieler angeschaut.

Ein realer, lebendiger, organischer Baum sollte es sein, um den herum das Set gebaut wurde. Und wirklich ist dieser australische Feigenbaum so schön, so zum Anfassen, dass er die Annahme Lügen straft, digital sei realer. Peter Jacksons gewaltige Baumwesen, die Ents aus "Herr der Ringe", oder auch Tim Burtons Todesbaum aus "Sleepy Hollow" würden vor Neid erblassen, wären sie echt.

Es ist dieser Baum, der Julie Bertuccellis neuen Film "The Tree" besonders macht. Erzählt wird die Geschichte einer Familie, die mit dem plötzlichen Tod des Ehemanns und Vaters leben lernen muss. Tochter Simone aber hat keine Lust, zu trauern. Sie ist überzeugt, dass ihr Vater aus den knarrenden Ästen und raschelnden Blättern zu ihr spricht. Immer wieder zwingt sie ihre vor Kummer betäubte Mutter Dawn in und unter den Baum.

Dawn wird von der herrlichen Charlotte Gainsbourg gespielt, die mit knapp vierzig und Mutterschaft im Film wie im wirklichen Leben immer noch wirkt wie das ewige 13-jährige freche Mädchen, das weder erwachsen werden will noch geschlechtsreif. Am Ende des Films jedenfalls, als der Baum kraft seiner Wurzeln so viel vom benachbarten Haus gesprengt hat, dass er gefällt werden soll, geht Simone im Baum in Sitzstreik und weigert sich wie Italo Calvinos "Baron in den Bäumen", je wieder runterzukommen.

In den Bildern verloren

Die Kamera gleitet über raue Rinde, an den Zweigen entlang, findet hier und da kleine Talismane und andere Devotionalien aus der Schatzkiste einer Achtjährigen. Der Blick geht dem Vater nach, man denkt kurz an Gothic Novel, aber zum Glück manifestiert sich der Tote zu keinem Zeitpunkt als Stimme oder gar Erscheinung aus dem Jenseits. Dies sind die schönsten Szenen, sie machen den Film sehenswert.

Hätte sich Bertuccelli manchmal etwas mehr auf diese Bilder verlassen oder sich auch nur ein klitzekleines bisschen in ihnen verloren, um sich anschließend auch ein wenig in ihrem Thema zu verlaufen, ohne dabei einer blöden, esoterischen Baummetaphorik zum Opfer zu fallen, sie hätte womöglich einen irritierenden Film machen können.

So ist ihr mit "The Tree", der übrigens nach der Vorlage der australischen Bestsellerautorin Judy Pascoe entstanden ist, eine nicht unangenehme, manchmal sogar berührende Mädchenfantasie gelungen, die so verschnörkelt wie der Eintrag der besten Freundin im Poesiealbum daherkommt - dank Charlotte Gainsbourgs stets verwehtem Langhaar auch hin und wieder hippieesk und insgesamt meist wohltuend leicht und unpathetisch.

Man freut sich an der wilden, selbstbewussten Morgana Davies, die Simone spielt, an Szenen, in denen sie ihre Mutter überredet, sich endlich aus dem Bett zu schälen, und ihr das verwuschelte Haar kämmt, und man verzeiht sogar Dialoge, in denen doch hin und wieder platt beredet wird, worum es geht: Ums Vermissen, um Einsamkeit, ums Naheliegende eben.

Das Bedauern, dass "The Tree" sich nicht wirklich vom Baum verleiten lässt, in den er so verliebt ist, bleibt trotzdem als diffuses Grundgefühl. Es passt also ganz gut, diesen Artikel mit einem Baumgedicht des meist unterschätzten Lyrikers der deutschen Nachkriegsgeschichte Heinz Erhardt zu schließen. Und das geht so: "Im Herbst bei kaltem Wetter / fallen vom Baum die Blätter - / Donnerwetter. / Im Frühjahr dann / sind sie wieder dran - / sieh mal an."

"The Tree". Regie: Julie Bertuccelli. Mit Charlotte Gainsbourg, Morgana Davies u. a. Frankreich/Australien/Deutschland/Italien 2010, 92 Min.

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