WELTUNTERGANG MIT ZUSCHAUER
: Der Abgrund tut sich auf

Knapp überm Boulevard

ISOLDE CHARIM

Die Wucht, die Dimension, die Dichte der dramatischen Ereignisse der letzten Wochen verschlägt einem den Atem. Tunesien, Ägypten, Libyen und dann Japan, Japan. Die Geschehnisse in Jemen, Bahrain oder Syrien kriegt man schon kaum mehr mit. Man hängt an den Livetickern, verfolgt die ständigen Updates, ist online dabei. Die Ereignisse werden quasi gleichzeitig erlebt und wahrgenommen. Aber sind sie deshalb auch schon globale, gemeinsame Geschehnisse?

Der slowenische Philosoph Mladen Dolar erzählte einmal die Geschichte, wie er und seine Familie bei einem Alarm während des kurzen Kriegs in Slowenien über die Straße zu den Schutzräumen liefen, während internationale Kamerateams dastanden und sie dabei filmten – als ob sie, die Schutzsuchenden, in einer anderen Wirklichkeit lebten. Tatsächlich rückt uns die mediale Globalisierung nicht nur näher zusammen, sie spaltet uns auch. Sie trennt die Welt in Betroffene und Zuschauer. Die Gleichzeitigkeit, die online hergestellt wird, schafft eine grundlegende Ungleichzeitigkeit: Das Publikum lebt ja, wenn es sich von den Berichten abwendet, seine Normalität weiter. Und natürlich hat jeder von uns ein Gefühl für diese Teilung, für die Unverhältnismäßigkeit zwischen unserem Alltag und der Ausnahmesituation in der Katastrophe. Wie läppisch klingen plötzlich ganz normale, zum Beispiel innenpolitische Statusmeldungen auf Facebook? Das Onlineportal Perlentaucher schrieb am 12. 3.: „Angesichts der Katastrophe in Japan kommt uns die Feuilletonrundschau ziemlich unwichtig vor. Hier ist sie dennoch.“ Gerade an den multiplen, geballten Katastrophen in Japan wird diese Zweiteilung der globalen Welt klar. Weltuntergang mit Zuschauer. Und gerade an der Atomkatastrophe in Japan wird gleichzeitig auch klar, dass diese Zweiteilung nicht mehr oder nicht immer stimmt. Denn Fukushima betrifft uns auch. Direkt. Es zieht uns den Boden unter den Füßen weg. Bei Fukushima sind wir nicht nur Publikum. Nicht weil wir real bedroht wären wie die Tausenden, im schlimmsten Fall Millionen Japaner. Dass Geigerzähler in unseren Breiten dieser Tage restlos aufgekauft wurden, ist vor allem ein Symptom, eine inadäquate Reaktion also auf etwas, was tatsächlich passiert ist. Auch die plötzliche oder wiederbelebte Angst vor den Atomreaktoren, die einen hier umgeben, ist nicht die Ursache, sondern eine Folge des wirklichen Betroffenseins.

Als ich vor einigen Tagen einen anderen Text, keine Kolumne, für die taz zu Japan schrieb, ersetzte der zuständige Redakteur mein Wort „Weltuntergang“ durch „Katastrophe“. Seither frage ich mich, ob er recht hatte. Weltuntergang ist nicht nur, ja sogar nicht einmal vorwiegend ein physischer Vorgang. Es ist der Moment, wo sich die ganze bisherige Welt, also alles, was uns darin gestützt hat, alles, was vertraut ist, was Sicherheit gibt, kurz, das, was Erde eben zur Welt für uns macht, auflöst. Ja, wir brauchen Evidenzen, um leben zu können. Diese mögen illusorisch sein, wir können ohne sie, ohne solche Schimären wie jene einer Ordnung, die ein gewisses Maß an Sicherheit gibt, nicht leben.

Weltuntergang ist der Einbruch einer ganz anderen Realität, eines Realen, das alle Sicherheiten zum Einsturz bringt. Die Bilder der brennenden Reaktoren in Fukushima sind solch ein Blick in den Abgrund, in die völlige Leere. Deshalb ist diese Atomkatastrophe nicht nur eine japanische, sondern auch eine globale. Deshalb geht sie uns alle an, sind wir nicht mehr nur Zuschauer. Die Bilder von Fukushima haben uns an den Rand unserer Welt gebracht. Sie haben uns den völligen Kontrollverlust, die Ausweglosigkeit, die radikalste Ausweglosigkeit eröffnet. Bei Hans Blumenberg ist der „Schiffbruch mit Zuschauer“ die Zusicherung, dass es für den Zuschauer einen festen Grund gibt, an den das feindliche Element des Wassers nicht heranreicht. Fukushima hat uns eingeprägt, dass es diesen festen Grund nicht gibt. Weltuntergang war vielleicht doch das richtige Wort.