Visueller Beifang im Netz

STRASSENBILD Google Street View ist eine riesige Fotogalerie – immer geöffnet und jedem zugänglich. Künstler wie Michael Wolf eignen sich nun das Erbe digitaler Ethnologie wieder an. Ein Essay zu „A Series of Unfortunate Events“

Was sich im Straßenbild an den Rändern abzuspielen schien, wird zur wesentlichen Information

VON STEFFEN SIEGEL

Einmal, irgendwann Mitte der 1960er Jahre, fuhr Ed Ruscha in systematischer Absicht über den Sunset Boulevard in Los Angeles. Zuerst von Schwab’s Pharmacy bis zum Jaguar-Showroom, dann zurück von der gegenüberliegenden Chevron-Tankstelle bis zur Straßenkreuzung auf Höhe der Hausnummer 9176.

Ein Künstler wie Ruscha hatte natürlich seine Kamera dabei. Genauer noch: Er hatte sie auf die Laderampe seines Trucks montiert, um so alle Fassaden, an denen er auf diesen zweieinhalb Meilen vorüberfuhr, aufnehmen zu können. 1966 schließlich veröffentlichte Ruscha in einer Auflage von tausend Exemplaren sein Künstlerbuch „Every Building on the Sunset Strip“, eine auf dem Kunstmarkt inzwischen teuer gehandelte Rarität. Die Idee war so einfach wie bestechend: Ruscha montierte alle auf seiner kurzen Fahrt entstandenen Fotografien so aneinander, dass ein Panorama des Boulevards von über sieben Metern Länge entstand.

Solange es die Fotografie gibt, haben sich Fotografen für das Bild von der Stadt interessiert. Ruscha jedoch trieb es auf die Spitze. Sein Panorama mag eher holprig sein, sind doch die einzelnen Bilder mehr schlecht als recht aneinandermontiert. Doch während er für die Bilder seines Buches, das eigentlich ein übergroßes gefaltetes Leporello ist, wenigstens einmal quer durch Hollywood fahren musste, brauchen jüngere Fotografen wie Michael Wolf, Edgar Leciejewski oder Jon Rafman das Haus gar nicht mehr verlassen. Inzwischen genügt es, den Computer anzustellen. Die Grobarbeit hat längst Google erledigt. Auf den fotografischen Feinschliff kommt es vielmehr an.

Heute wissen wir, dass Ruschas Projekt einer totalen fotografischen Vermessung des Stadtraums kaum mehr als eine Versuchsanordnung von ausgesprochen bescheidenem Maßstab war. Vier Jahrzehnte später ist nicht nur jedes Gebäude des Sunset Boulevards vollständig von Google Street View fotografiert worden. In dieser Datenbank haben inzwischen ganze Städte und Länder als endlose Bildpanoramen Platz gefunden. Es dürfte der vehement geführten öffentlichen Diskussion geschuldet sein, die im vergangenen Herbst mit Einführung von Google Street View in Deutschland einherging, dass, wenigstens hierzulande, bisher mehr von den Zumutungen an die Privatsphäre die Rede war; aber erstaunlich wenig davon, dass es sich zugleich um die weltweit größte Fotogalerie handelt – rund um die Uhr geöffnet und von überall aus betretbar.

Man muss nicht sogleich, wie gerne unterstellt wird, einen Wohnungseinbruch in den besseren Stadtvierteln vorbereiten wollen, um sich für die Möglichkeiten eines virtuellen Flanierens zu begeistern. Hatte Ruschas klassische Analogkamera noch genau ein Objektiv, das starr auf die seitlich vorbeiziehenden Fassaden gerichtet war, so lässt Google eine digitale 360-Grad-Panoramakamera mit nicht weniger als neun Augen durch die Städte fahren. Ob in vertrauter Umgebung oder in der Fremde: Dem neugierigen Blick öffnen sich auf diese Weise scheinbar unbegrenzte Möglichkeiten des visuellen Erkundens – oder eben Spionierens. Hat man sich einmal auf diese zeitgenössische Version eines „armchair travelling“ eingelassen, wird man all jene virtuellen Milchglasscheiben, mit denen einzelne Fassaden auf Verlangen verpixelt werden mussten, schnell als lästige Sackgassen empfinden.

Zu den sonderbaren Pointen der jüngeren Bildgeschichte gehört, dass Ruschas Nachfolger namenlos bleiben. In gewisser Weise sind sie die späten Erben jener fotografierenden Ethnologen, die schon Mitte des 19. Jahrhunderts das fotografische Bild als ein Medium des Dokumentarischen einsetzen wollten. Ähnlich altmodisch ist auch der von Google vertretene Anspruch, die Stadt als ein Raum gewordenes Dokument auszustellen, das sich nach allen Seiten hin durchstreifen lässt. Doch ist auch am Beginn des 21. Jahrhunderts der ethnologische Blick nicht anders als um den Preis der teilnehmenden und damit immer schon eingreifenden Beobachtung zu haben. Googles anonyme Ethnologen jedenfalls haben keinesfalls unbemerkt auf ihren endlosen Fahrten die Stadt mit der Kamera durchquert.

Dass es auch einen Blick zurück geben kann, hiervon berichtet jene in einem Buch zusammengestellte Sammlung von Fotografien, die jüngst der in China lebende Fotograf Michael Wolf unter dem bezeichnenden Titel „FY“ veröffentlicht hat. Deutlich genug spielen die beiden Buchstaben auf jene Geste des ausgestreckten Mittelfingers an, die in jedem der drei Dutzend Bilder variiert wird. Was einmal eine aus dem Augenblick entstandene Reaktion auf das zudringliche Kameraauge gewesen sein mag, lässt sich nun als dauerhafte Kritik an einer vollautomatisierten Erfassung lesen – unveränderlich in der Galerie von Google Street View eingefroren, von Wolf aus diesem endlosen Bilderkontinuum ausgeschnitten und zu einzelnen Tableaus verdichtet. Googles eigenmächtiger Zugriff auf den städtischen Raum ist, hierüber wird man gewiss nicht streiten müssen, von kommerziellen Interessen getrieben. Der ins Bild gehaltene Stinkefinger ist wohl der kleinste gemeinsame Nenner einer Kritik hieran.

„A Series of Unfortunate Events“ nennt Michael Wolf ein zweites Buch mit Bildern aus Google Street View, von denen einige hier auf der rechten Seite zu sehen sind. Von der städtischen Kulisse, das heißt von Straßenzügen oder auch nur einzelnen Fassaden, ist hier nichts mehr zu bemerken. Es sind vielmehr die in den Räumen verteilten Akteure des alltäglichen Lebens, denen Wolfs Aufmerksamkeit gilt. Überaus nah rücken die von ihm gewählten Ausschnitte an das beiläufige Geschehen heran. Wolfs Verfahren zielt auf eine Veränderung des Fokus unserer Aufmerksamkeit: Was sich in der Totale des Straßenbildes allenfalls an den Rändern abzuspielen schien, das wird nun zum wesentlichen Gegenstand der fotografischen Information.

Fischer sprechen vom Beifang, der ihnen ungewollt in die Netze geraten ist. In diesem Sinn ist der Beifang, der sich auf all diesen Bildern finden lässt, beträchtlich – und natürlich reizvoll. Denn Googles Fotogalerie ist überreich an Information. Und gerade hieran entzündete sich ja eine vielfach formulierte Sorge vor den ungewünschten Möglichkeiten von Google Street View. Wenn das flüchtige Rauschen der Wirklichkeit erst mal in einem öffentlich und dauerhaft ausgestellten Bild festgehalten wird, kann jeder einzelne Augenblick, wie der Titel von Wolfs Buch andeutet, eine unwillkommene Entlarvung bedeuten.

Dem neugierigen Blick öffnen sich unendliche Möglichkeiten des visuellen Erkundens – oder eben Spionierens

Solche Fantasien sind übrigens alles andere als neu. In den ersten Jahren des Films, vor mehr als einem Jahrhundert, erzählte man sich mit Vorliebe davon, auf der Kinoleinwand einen untreuen Ehemann entdeckt zu haben, der in verräterischer Begleitung und unfreiwillig vor die Kamera eines jener Filmpioniere getreten war, die mitten in den Städten Bilder des alltäglichen Lebens einzufangen suchten. Wir variieren, wie es scheint, heute eine solche „urban legend“ im Horizont unserer eigenen Wirklichkeit. Und sind natürlich keinesfalls daran gehindert, uns dennoch auf die voyeuristische Suche im fotografischen Raum von Google Street View zu machen. Vielleicht ist es ja ein verstörenden Zeichen, dass Wolf in seiner Sammlung eben auch ein pechschwarzes Bild vom Broadway zeigt, dessen Beschriftung lautet: „This image is no longer available.“

Dass die künstlerische Aneignung von Google Street View mehr als ein bloßes Recycling von Bildern ist, wird in einem Projekt des Leipziger Fotografen Edgar Leciejewski vollends vor Augen geführt. Ganz wie Wolf begab sich auch Leciejewski auf die Suche nach Googles visuellem Beifang und konzentrierte sich hierbei vor allem auf die ins Bild geratenen Menschen. Das Ergebnis der hierbei entstandenen Serie „ghosts and flowers“ ist von überraschender Poesie. Denn trotz ihrer flüchtigen Erscheinung gewinnen all diese Passanten eine bemerkenswerte Präsenz und werden hier wieder als eigentlicher Gegenstand der Street Photography rehabilitiert. Allemal aber dann, wenn man wie Leciejewski das am Computerbildschirm gefundene Bild zum wandgreifenden Tableau vergrößert.

Ob man zuletzt hoffen muss, dass die Bildrechte-Abteilung des kalifornischen Internetkonzerns nicht doch noch nervös wird angesichts der inzwischen beinahe zahllosen künstlerischen Aneignungen einer durch Google betriebenen Aneignung? Der Anruf beim kanadischen Medienkünstler Jon Rafman jedenfalls dürfte dann ganz gewiss amüsant werden.

Denn wenn Google Street View die Möglichkeiten der klassischen Street Photography tatsächlich herausfordert und wenn sich hierdurch unsere Möglichkeiten, uns ein Bild von der Welt zu machen, in bemerkenswerter Weise vergrößern, dann ist über den Wirklichkeitsanspruch all dieser Bilder zuletzt dennoch wenig gesagt. Je länger man die Bilder auf Rafmans Website 9-eyes.com betrachtet, umso rätselhafter müssen diese Aufnahmen werden, umso brüchiger aber auch die mit ihnen verbundene Fantasie vom allgegenwärtigen Kameraauge. Denn sind wir tatsächlich bereit zu glauben, dass Googles Kamera bis in die Zuschauerränge eines Freiluftaquariums vordringen kann?