Erdogans Verständnis von Geschichte

NATIONALISMUS Der Abriss des türkisch-armenischen Versöhnungsdenkmals in Kars steht unmittelbar bevor

Die gesamte Kunst- und Intellektuellenszene hat sich mit Aksoy solidarisiert

Mehmet Aksoy hört sich deprimiert und erschöpft an. Seit Monaten kämpft der Bildhauer nun um sein Friedens- und Versöhnungsdenkmal in Kars, doch ohne Erfolg. „Du kannst deine Rechte hier nicht mehr verteidigen“, sagt er fast schon resigniert, „wenn der Pascha gesprochen hat, spielen Rechte keine Rolle mehr.“ Mehmet Aksoy spielt damit auf einen Auftritt von Ministerpräsident Tayyip Erdogan Ende letzten Jahres in Kars an, als dieser sein Denkmal im Nordosten der Türkei besichtigte und anschließend als „monströs“ denunzierte.

Erdogan hatte die 30 Meter hohe Doppelstatue (zwei aufeinander zugehende, jeweils halbierte Personen, die das armenische und türkische Volk symbolisieren), die oberhalb von Kars auf einem Hügel der alten Burg der Stadt gegenübersteht, im Vorbeifahren gesehen und sich furchtbar aufgeregt. Das Denkmal sei viel zu groß, hässlich und, so wurde später nachgeschoben, überschatte im Übrigen eine Moschee und die Grabstätte eines Sufi-Heiligen, was völlig unmöglich sei. Wörtlich sagte Erdogan damals: „Ich habe den Bürgermeister von Kars angewiesen, dafür zu sorgen, dass das Denkmal möglichst schnell abgerissen wird.“

Nun liegt es in einem Rechtsstaat ja nicht im Ermessen eines Ministerpräsidenten, den durch alle Instanzen genehmigten Bau eines Kunstwerkes wieder abreißen zu lassen. Als der Bürgermeister von Kars, ein Parteigenosse in Erdogans AKP (das heißt übrigens Gerechtigkeits- und Fortschrittspartei), also daran ging, den Wunsch seines Chefs umzusetzen, ging Mehmet Aksoy zum zuständigen Gericht in Erzerum und klagte.

Das Gericht erließ eine einstweilige Anordnung, die den Abriss verbot, bis ein endgültiges Urteil gesprochen ist. Doch damit hatte die Rechtsstaatlichkeit sich erschöpft. Die Honoratioren der Provinz ließen die einstweilige Anordnung anfechten und, siehe da, bekamen Recht. „Sie haben dafür extra einen Richter aus Zentralanatolien, aus Kayseri geholt“, erzählt Mehmet Aksoy.

In Windeseile ließ die Stadtverwaltung von Kars dann den Auftrag ausschreiben und engagierte für 150.000 Euro eine Abrissfirma, die in der kommenden Woche mit ihrer Arbeit beginnen soll. Sollte es wirklich dazu kommen, hätte Erdogan nicht nur die gesamte Kunst- und Intellektuellenszene des Landes vor den Kopf gestoßen, die sich in seltener Einmütigkeit mit Mehmet Aksoy solidarisiert hatte.

Er würde auch die auf eine Aussöhnung zwischen der Türkei und Armenien hoffenden Europäer und Amerikaner düpieren, ganz zu schweigen von den armenischen Nachbarn selbst. Denn, Zufall oder nicht, just zu dem Zeitpunkt, wenn die Abrissarbeiten in vollem Gange wären, gedenken die Armenier weltweit wie jedes Jahr am 24. April des Genozids von 1915.

Doch das ist offenbar in diesem Jahr nicht so wichtig. Die Welt schaut auf den Nahen Osten, wo derzeit die türkische Diplomatie, durchaus im Sinne der USA und der Nato, ihre gesamte Kapazität ausspielt. Während es in den letzten Jahren im Vorfeld des 24. April in den USA immer ein aufgeregtes Gerangel um eine Resolution von Kongress und Senat über die Anerkennung des Völkermords der Türken an den Armeniern gab, herrscht in diesem Jahr auffällige Ruhe.

Das liegt zum einen daran, dass nach den Wahlen im letzten Jahr die Republikaner wieder die Mehrheit im Kongress haben, die sich traditionell weniger um die Armenier kümmern als die Demokraten, es hat sicher aber auch mit der außenpolitischen Großwetterlage zu tun.

Erdogan braucht deshalb Kritik aus dem Westen kaum zu fürchten. Die letzte Hoffnung für Aksoy ist, dass sein Anwalt einen Antrag beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof eingereicht hat. Aber bis dort darüber entschieden ist, das weiß natürlich auch der Künstler, „gibt es in Kars wahrscheinlich nichts mehr zu beschützen“.

JÜRGEN GOTTSCHLICH