Wie es ist, auf der Welt zu sein

LEBENSWERK Auch die Zeit nebenan vom Tode braucht den Autor mit leichter Hand: letzte Erzählungen von John Updike – „Die Tränen meines Vaters“

Seine Jedermann-Figuren lässt er auch im hohen Alter noch Witz und waches Bewusstsein haben

VON DIRK KNIPPHALS

Eine Vaterfigur der amerikanischen Gegenwartsliteratur war John Updike schon lange. Ein alter Meister, der sich und seinen Lesern nichts mehr zu beweisen hat, ist der vor zwei Jahren leider ohne Nobelpreis gestorbenen Lebenserforscher, Alltagsethnologe und Menschenschilderer aber bis zum Schluss nie gewesen. In „Terrorist“ dachte er sich in den Kopf eines Selbstmordattentäters hinein. In „Die Witwen von Eastwick“ hat er sich kurz vor seinem Tod noch vulgäre Späße erlaubt. Auch in seinen späten Romanen wollte er es immer noch wissen.

Das ist bei seinen nun postum erschienen Geschichten nicht anders. Aber den Band „Die Tränen meines Vaters“ zeichnet auch eine große Gelassenheit aus. Updike hat hier noch einmal vorgeführt, was er kann: mit leichter Hand Paare auf Bildungsreise porträtieren und dabei die Freuden und die Schrecken des zweiten und dritten Eheversuchs anklingen lassen; seine eigene, in dem Band immer wieder kaum verhüllt autobiografisch durchschimmernde Lebensgeschichte sich in der Entwicklung der Gesellschaft spiegeln lassen und umgekehrt.

Updikes lebenslange Themen und Obsessionen, sie treten hier noch einmal auf. Etwa wenn eine Geschichte zunächst die leichte Irritation im Treffen eines alten Mannes und einer alten Frau schildert, die, wie es heißt, „nebenan vom Tod wohnen“ – und wenn sich dann der Mann erst ganz am Schluss daran erinnert, dass er mit dieser Frau vor sechzig Jahren den ersten Kuss seines Lebens tauschte. „Wir haben alle Z-Zeit der Welt“, hatte er als Jugendlicher ihr damals gesagt. In dem angedeuteten Stottern spiegelt sich Updikes eigene Sprachstörung. Das Stottern hat der alte Mann, der sich da erinnert, inzwischen verloren. Die Zeit aber auch.

Dieses „noch einmal“ durchzieht den Band. Aber „Die Tränen meines Vaters“ ist kein wehmütiges Buch. Genauigkeitssuchend und ironisch ist Updike bis zuletzt. In der allerletzten Geschichte schluckt ein kranker Mann seine Tabletten mit einem Glas Wasser hinunter – und dieses alltägliche Ritual wird ihm noch einmal zur Emanation alles Lebendigen. Dann die allerletzten Sätze: „Meine lebensverlängernden Pillen in der linken Hand, hebe ich das Glas, das Wasser darin mild vom kurzen Warten auf dem Marmortisch. Wenn ich die Gedanken dieses sonderbaren alten Kerls richtig lese, bringt er gerade einen Toast auf die sichtbare Welt aus, sein bevorstehendes Verschwinden aus ihr sei verdammt.“

Kann gut sein, dass das die letzten Prosasätze waren, die Updike überhaupt schrieb. Sie enthalten einen phänomenalen Wechsel von der Ich- zur auktorialen Perspektive, in dem wie in einem Keim das ganze vielfältige Werk dieses Autors steckt. Jemand, der die Gedanken eines sonderbaren Menschen (der er selbst ist) richtig lesen möchte: Updike war in all seinen Figuren und Gestalten immer auch ein großer Selbsterforscher.

Wirklich ausgemacht hat ihn dann aber immer erst, dass ihm jeder Mensch in diesem Sinn als „sonderbar“ und erzählenswürdig erschien. Die Momente der Erleuchtung und der Verzweiflung, der Verirrung und der Transzendenz billigte er (anders als die oft künstlerhörige deutsche Erzähltradition) nicht nur den Außenseitern und Bohemiens der Gesellschaft zu, sondern allen. In diesem Band lässt er seine Jedermann-Figuren auch im hohen Alter noch Witz und waches Bewusstsein haben.

Und auch was ihn zeitlebens zum Schreiben angetrieben hat, kann man dem Buch entnehmen, mit dem dieses Lebenswerk nun ausklingt; es waren, denkt man sich beim Lesen, immer die ganz einfachen Sachen, die so schwer zu beschreiben sind. Wie es sich anfühlt, Auto zu fahren, auch als alter Mensch. Wie es sich in den Fünfzigern anfühlte, von der Kleinstadt, in der man aufwuchs, mit dem Zug zum College zu fahren, in ein verheißungsvolles Leben. Wie die Gesichter der Menschen aussahen, die man einmal liebte. Solche Beschreibungen, in denen etwas von der Sonderbarkeit aufscheint, hier und heute auf der Welt zu sein, als dieser bestimmte Mensch, in dieser bestimmten Situation, sind ihm hier wirklich gut gelungen, noch einmal.

John Updike: „Die Tränen meines Vaters“. Aus dem Amerikanischen von Maria Carlsson. Rowohlt, Reinbek 2011, 368 Seiten, 19,95 Euro