Jeder ist angeklagt

PERFORMANCE Franz Kafka geht voran, die Gruppe Signa folgt. In einer ehemaligen Kfz-Zulassungsstelle in Köln inszeniert sie „Die Hundsprozesse“. Ein Besuchsprotokoll

Ich gebe eine Mischidentität aus wahren und falschen Daten an. Bei der Telefonnummer streike ich

VON ALEXANDER HAAS

Dieses Mal laden sie also ein in ein verlassenes Amtsgebäude der Stadt. Nach den Kölner Produktionen „Erscheinungen der Martha Rubin“ und „Hades-Fraktur“ siedelt die dänisch-österreichische Künstlergruppe Signa ihre neueste Performance in der ehemaligen Kfz-Zulassungsstelle der Stadt an. Schauspielintendantin Karin Beier hat auch in ihrer vierten Spielzeit an der Kooperation mit dem Team festgehalten, das Signa und Arthur Köstler gegründet haben. Denn Signa zu buchen bedeutet nach dem Erfolg der ersten Produktionen internationale Aufmerksamkeit.

„Die Hundsprozesse“ sind angelehnt an Kafkas Roman „Der Prozess“. Jeder, der das Gebäude betritt, ist angeklagt. Wobei der Prozess, der einem bevorsteht, wie in der Vorlage grundsätzlich ohne Aussicht auf Erfolg ist. Das erfahre ich später bei meinem Termin bei dem Anwalt Huld, den es, wie ein paar andere Figuren hier, auch im Roman gibt.

Stickige Amtsstuben

„Sie sind angeklagt. Bitte verhalten Sie sich gemäß den Anweisungen des Personals“, tönt es unmissverständlich aus den Lautsprechern in der Empfangshalle. Der großen Tafel am Eingang zufolge befindet man sich im „Basalgericht der Stadt Köln“. Die Zuschauer werden in Gruppen eingeteilt und zügig zur Aufnahme in das erste von drei Stockwerken geleitet.

Trist ist das Innere des Gebäudes, das aus den 1960er Jahren stammt. Verblichenes Grau auf den verlassenen Fluren. Die Amtszimmer sind kleine Zentren der Verwahrlosung. Hier arbeiten (und wohnen offenbar) die Gerichtsbediensteten. Verdreckte Matratzen an den Wänden, heruntergekommene Büromöbel, zugezogene Vorhänge und Jalousien, stickige Luft. Die Heizungen sind aufgedreht. Draußen sind es 20 Grad.

Jede Gruppe muss sich einem langwierigen Meldeprozess unterziehen. Formulare. Identität und persönliche Daten werden registriert. Ich bekomme meine „Akte“, darauf klebt ein Terminplan, der mir genau vorschreibt, wo ich mich zwischen 18.45 Uhr und 23.45 im 15- bis 20-Minuten-Takt einzufinden habe: Richter, kleiner Gerichtssaal, Verhöre I bis III, Zentrum für seelisches Wohlergehen, Erblass, Ausländische Angelegenheiten, Anwaltskanzlei usw.

Ich gebe eine Mischidentität aus wahren und falschen Daten an. Bei der Telefonnummer streike ich. Meine Vorrednerin wird deswegen unter bohrendem Blick gefragt, ob sie diese Verweigerungshaltung wirklich ernst meine. Bei mir wird es hingenommen unter dem Hinweis, dass sich unkooperatives Verhalten auf den Verlauf meines Prozesses ungünstig auswirke.

Schon früh drängt sich mir die Frage auf, wo das Ganze hinführen soll. Natürlich, das war vorhersehbar, mir geht es wie Josef K. in Kafkas Roman. Ich stelle mir dieselben Fragen. Weshalb bin ich denn angeklagt? Und von wem? Doch Josef K. ist sprichwörtlich allein auf weiter Flur. Sein ganzes Fatum muss er als Individuum erdulden. Darin besteht zu einem beträchtlichen Teil die unheimliche und eindringliche Wirkung des Buchs.

Das ist hier anders. Zwar könnte man es darauf ankommen lassen, dem Laufzettel nicht zu folgen und das Gebäude auf eigene Faust zu erkunden. Aus manchen Türen dringen sonderbare Maschinengeräusche, aus anderen Stimmen. Irgendwo Schreie, zwielichtige Figuren, deren Funktion man nicht kennt. Aber hält man sich an den Plan, bleibt man fast die gesamten sechs Stunden der Aufführungszeit in kleineren oder größeren Grüppchen. Spätestens bei den Terminen trifft man wieder andere Angeklagte. Schon höre ich das Wort von der „Stempeljägerei“. Denn bei jeder Meldung erhält man einen Bestätigungsstempel.

„Die Hundsprozesse“ bewegen sich in einem Zwiespalt: Einerseits scheint es um eine Konfrontation mit dem Thema Schuld zu gehen. Immer wieder wird man der Frage ausgesetzt, ob man sich zu seiner Schuld bekenne. Natürlich verneinen die meisten, wollen wissen, welche Schuld denn gemeint sei. Andererseits geht es aber um den persönlichen Spieltrieb der Zuschauer. Und wohl auch um den des Teams. Expliziter als bei Kafka tauchen allmählich Gewalt und Sex auf. Je später es wird, desto häufiger erlebt man, dass kaputte Langzeitangeklagte, die es unter den Darstellern ebenfalls gibt, und subalterne Hilfskräfte von höher gestellten Bediensteten erniedrigt werden. Man kann sich einmischen oder nicht, je nach individueller Bereitschaft.

Unheimliche Parallelwelt

Doch spannender wäre es gewesen, tiefer in eine Auseinandersetzung über „die Schuld von Einzelnen innerhalb von sozialen und politischen Gefügen“ einzusteigen, wie es Signa und Köstler im Vorfeld als Anliegen der Produktion benannten. Möglich gewesen wäre das zum Beispiel in den verhörartigen Gesprächen. Doch weil man ja dem Fortgang seines Prozesses verhaftet ist, der noch dazu kein anderes Ziel zu haben scheint, als die Gerichtstermine abzuklappern, macht man in dieser Hinsicht weder besonders erhellende noch besonders verstörende Erfahrungen.

Das ist schade. Denn Signa sind und bleiben die ästhetischen Großmeister einer frappierend unheimlichen zweiten Welt. Hier hätten sie sie aber doch zwingender zuschneiden müssen.