Joseph Conrad war ein Betrüger

HINTERHOF Ein Kanalbau und viele Opfer: Juan Gabriel Vásquez erzählt aus einem Land, in dem das Gemetzel die nationale Form der Wachablösung ist

VON ANDREA KADEN

Richtende Leser, hochverehrtes Publikum!“ Im neuen Roman des Schriftstellers Juan Gabriel Vásquez ist man als Leser ungewöhnlich gegenwärtig. Da wird einem unverhofft die Verantwortung zuteil, über das Leben und die Versäumnisse eines fremden Mannes aus einer anderen Zeit und von einem fernen Kontinent zu urteilen. Es ist die – natürlich fiktive – Lebensbeichte eines gewissen José Altamirano, die dieser im trüben Londoner Exil des Jahres 1924 verfasst.

Juan Gabriel Vásquez, 1973 in Bogotá geboren, erhielt mit seinem Debüt „Die Informanten“ auch hierzulande viel Aufmerksamkeit. Sein zweiter Roman „Die geheime Geschichte Costaguanas“ erzählt nun neben der Lebensbeichte auch das Leben Joseph Conrads, dessen Biografie mit Selbstmordversuchen garniert wird. Gleichzeitig ist es das Porträt eines karibischen Landes mit seinem historischen Bühnenbild aus Revolutionen und Bürgerkriegen, ausstaffiert mit dem französischen Vorstoß, durch tödlich tropischen Urwald einen schiffbaren Kanal zu bauen, und untermalt vom US-amerikanischen Muskelspiel auf dem eigenen „Hinterhof“. Auf diesem Schauplatz wird das Leben eines unbedeutenden Mannes inszeniert, dessen persönliches Glück den Wirren seiner Zeit zum Opfer fiel. Ebendieser Erzähler Altamirano versteht das Fabulieren ganz köstlich, und obwohl er uns auch immer wieder Aufrichtigkeit versichert, neigt der „Anti-Zeuge“ zu Revisionismus und Mythisierung.

Das titelgebende Costaguana ist genaugenommen ein fiktives Land, eine bis zum Rand mit Lateinamerikaklischees vollgestopfte Bananenrepublik am Ende des 19. Jahrhunderts. Beschrieben hat es 1904 Joseph Conrad in seinem Klassiker „Nostromo“. Schon bei Conrad ist das Vorbild Costaguanas leicht auszumachen: Wir brechen auf nach Kolumbien, um die Abspaltung seiner Provinz Panama, „des Zankapfels der westlichen Welt“, mitzuerleben. Doch wollen wir unserem Erzähler und Augenzeugen jener Revolution José Altamirano glauben, ist Joseph Conrad nicht zu trauen. Schließlich beruhe „Nostromo“ lediglich auf Berichten aus zweiter Hand und den lückenhaften Erinnerungen an Conrads eigene Zeit als Schiffsmaat in der Karibik. Und was noch viel schwerer wiegt: Conrad hat ihn aus der Chronik der Ereignisse gelöscht und ihn damit um sein Leben betrogen, nachdem Altamirano ihm, seiner „Zwillingsseele“, die Geschichte seines Landes und seines Lebens im Londoner Exil berichtete.

In die Irre geführt

Vásquez’ Manier, historische Ereignisse zu fiktionalisieren, hat einen sympathisch ironischen Unterton, wenn er uns ein Attentat auf Simón Bolívar serviert, „während im Präsidentenbett des angehenden Kolumbiens der Befreier und seine Befreierin der freizügigsten Freiheiten frönen“. Hier und da gerät die Wiedergabe aber auch schockierend nüchtern, wenn er das Kampfgeschehen im Deutsch-Französischen Krieg und in einem der unzähligen Bürgerkriege zwischen kolumbianischen Konservativen und Liberalen aus der Perspektive eines Gewehrs schildert. Und sein Erzähler nimmt sich ohnehin die Freiheit, die „eigene Unwissenheit mit etwas Interessantem aufzufüllen“, wie etwa mit Joseph Conrads Analabszess.

Doch tummeln sich im Roman noch mehr Menschen mit der Gabe, ganz eigene Wahrheiten zu erschaffen. Zu ihnen gehört Altamiranos Vater Miguel, ein fortschrittsbesessener Journalist, der über die phänomenalen – leider nicht ganz realen – Erfolge beim Bau des Kanals berichtet und in gutem Glauben nicht nur die französischen Geldgeber in die Irre führt. Da glaubt man beinahe, der Autor Vásquez persönlich, der neben der Schriftstellerei auch Journalismus betreibt, wolle uns warnen, dass die „Wirklichkeit ein schwacher Gegner für die Macht der Feder ist, dass jeder sein Utopia gründen kann, sofern er nur rhetorisch gut gerüstet ist“.

Mit dem Kanalbau, der 22.000 Menschenleben kostet, scheitert auch Miguel Altamirano und wird mit einem großen Bestechungsskandal in den Abgrund gerissen. Inzwischen zieht sich sein Sohn, unser Erzähler, in die Abgeschiedenheit seines Privatlebens zurück und eine Zeit lang gelingt es ihm und seiner Familie, sich vom panamaischen Boden loszureißen und sich jenseits des politischen Lebens in einer teilnahmslosen Parallelwelt einzurichten. Zu spät erkennt José Altamirano, dass in Kolumbien, wo „das regelmäßige Gemetzel unter Landsmännern die nationale Form der Wachablösung“ ist, auch das Private politisch ist, und seine Apathie gegenüber einem neuen, nun auch Panama ergreifenden Bürgerkrieg hat fatale Folgen.

Altamirano ist nicht nur der Anti-Zeuge, er ist auch ein Anti-Held, Opfer und ohnmächtiger Zeuge der Ereignisse. Großzügig genehmigt ihm Vásquez menschliches Versagen. Die Anteilnahme an seinem Schicksal mindert das nicht. Zwar weiß er sich an seinem Land, dessen Geschichte er als „ein Werk mittelmäßiger Dramatiker, ausgestattet von stümpernden Bühnenbildnern, auf die Bühne gebracht von schlampigen Regisseuren“, verflucht, auf überaus dramatische und auch amüsante Art zu rächen – ein Gescheiterter bleibt er dennoch.

Juan Gabriel Vásquez: „Die geheime Geschichte Costaguanas“. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2011, 336 Seiten, 22,95 Euro