Demokratie und Energiewende: "Wir haben nicht mehr beliebig Zeit"

Kulturwissenschaftler Claus Leggewie plädiert für mehr Partizipation der Bürger, aber auch für deren Selbstbeschränkung, damit die Energiewende gelingen kann.

"Freiheit ist nicht nur die Freiheit zu 'mehr'", sagt Claus Leggewie. Bild: dpa

taz: Herr Leggewie, als Berater der Regierung plädieren Sie für die "große Transformation". Deutschland solle seine Energieversorgung komplett auf umweltfreundliche Quellen ohne Öl, Kohle und Atom umstellen. Ist ein solch grundsätzlicher Wechsel in unserer Demokratie überhaupt möglich?

Claus Leggewie: Jedenfalls ist es eine sehr große Herausforderung. Autoritäre Regime können Entscheidungen vielleicht schneller durchsetzen, aber Demokratien sind besser darin, für notwendige, unbequeme Lösungen Rückhalt zu organisieren. Dass das Entscheidungen verzögert, ist allerdings gerade beim Klimawandel ein Problem: Um mögliche katastrophale Folgen zu vermeiden, haben wir nicht mehr beliebig Zeit.

Muss der Staat auch gegenüber seinen Bürgern durchsetzungsfähiger werden, um einen raschen Wandel herbeizuführen?

CLAUS LEGGEWIE, geb. 1950, ist Politologe, Kulturwissenschaftler und berät die Bundesregierung als Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats für Globale Umweltveränderungen (WBGU). Seit 1989 ist er Professor für Politikwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen, seit August 2007 Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen. 2009 veröffentlichte er das Buch "Das Ende der Welt, wie wir sie kannten - Klima, Zukunft und die Chancen der Demokratie".

Unser Plädoyer für die große Transformation fußt auf der Einsicht, dass die Bürger heute am absoluten Dominanzanspruch der verselbständigten Wirtschaft leiden, die ihre Rationalitätsmaßstäbe und ihr Realitätsprinzip allen anderen Teilsystemen aufzwingt. Um diese Übermacht einzudämmen, muss das wirtschaftliche Handeln wieder gesamtgesellschaftlich eingebettet werden. Das bewirkt eine Stärkung des Politischen - aber nicht notwendigerweise des Staats, dessen Steuerungsvermögen in den letzten Jahrzehnten dramatisch abgenommen hat. Die Bürger, die Zivilgesellschaft müssen nolens volens eine stärkere Rolle spielen. Das heißt: mehr Rechte, aber auch neue Pflichten.

Sie empfehlen einen "neuen demokratischen Tausch". Die Bürger müssten einerseits mehr Mitsprache bei Großvorhaben und grundsätzlichen Entscheidungen erhalten, sollten sich andererseits aber auch selbst beschränken, damit die Transformation nicht stecken bleibt. Wie muss man sich diesen Tausch vorstellen?

Der neue Gesellschaftsvertrag ist eine Metapher, kein Vertragswerk auf Papier. Er beinhaltet einerseits mehr Partizipation. Wenn etwa die grün-rote Landesregierung in Baden-Württemberg Windparks im Schwarzwald für notwendig hält, sollte sie nicht erst post festum einen längeren Diskussionsprozess einleiten: Wie soll die Energieversorgung aussehen, welche Kraftwerke brauchen wir, wie viele zusätzliche Stromleitungen, welche Bauplätze sind geeignet? Bürger, Interessengruppen, Kommunen und Landkreise nehmen an diesem Ratschlag teil, und die Entscheidungen, die daraus erwachsen, sind dann andererseits auch umzusetzen. Demonstrationen kann man nicht verbieten, aber die protestierenden Bürger müssten sich fragen, wo sie ihre privaten Interessen dann auch zurückstellen müssen. Freiheit ist nicht nur die Freiheit zu "mehr", auch die freiwillige, aus Einsicht in die Notwendigkeit gebotene Selbstbeschränkung des "Weniger ist mehr" kann befreiende Wirkung haben.

Wenn lange gut debattiert worden ist, darf die Polizei auch den Schlagstock benutzen?

Was für eine erpresserische Frage! Aber sicher: In letzter Konsequenz kann der Staat sein Gewaltmonopol durchsetzen, zumal wenn die Bürger stärker in die Entscheidungen einbezogen worden sind.

War das Schlichtungsverfahren zum Bau des Bahnhofs Stuttgart 21 ein gelungenes Beispiel der neuen Partizipation der Bürger?

Grundsätzlich war es richtig, einen öffentlichen Diskurs über scheinbar unausweichliche technokratische Entscheidungen nachzuliefern. Aber das Verfahren hatte deutliche Schwächen. Wenn solche Debatten vom Fernsehen übertragen werden, halten Politiker bei dieser medialen Inszenierung gerne Fensterreden und spielen auch andere Teilnehmer Theater. Kritischer war noch, dass die Schlichtung erst stattfand, als das Kind längst in den Brunnen gefallen war. Debatten über intelligente Energieversorgung und Massenmobilität führt man besser, bevor solche Sachzwänge aufgetürmt und Milliarden Euro verplant und verbaut worden sind.

Der Schlichter Heiner Geißler hat deshalb empfohlen, den Bahnhof trotz starker Bedenken weiterzubauen. Sollten die Gegner nun die von Ihnen empfohlene Selbstbeschränkung üben und ihren Protest aus Fairness gegenüber der Allgemeinheit einstellen?

Weil die Beteiligung der Bürger in diesem Fall der grundsätzlichen Bauentscheidung nicht vorausging, wie es richtig gewesen wäre, sondern ihr folgte und deshalb entwertet war, fällt es mir schwer, jetzt diesen Rat zu geben. Wenn allerdings die im Ländle anberaumte Volksabstimmung eine Mehrheit für den Bahnhof ergibt, würde ich sagen: Hört auf mit dem Protest, so schwer es fällt. Denn die Welt kennt größere Fragen als Stuttgart 21. Dieser Bahnhof ist - Pardon - eine Fußnote. Es gibt wichtigere Probleme - beispielsweise den Klimaschutz. Die neue Landesregierung muss mit Daimler über die Mobilitätswende reden und mit den Energiekonzernen über den Atomausstieg und das atomare Endlager, das ist ökologisch verantwortliche Politik.

Für die Zukunft entwerfen Sie ein Bild der "deliberativen Demokratie". Soll das eine Ergänzung der heutigen Verfahren sein oder schwebt Ihnen ein Umbau unseres politischen Systems vor?

Wir stellen uns neue Partizipationsmöglichkeiten nicht als marginale, sondern wesentliche Ergänzungen der heutigen Verfahren vor. "Deliberative Demokratie" meint "fundierte Erörterung der öffentlichen Angelegenheiten" und ist das Gegenteil von Demoskopie und Stimmungsdemokratie. Man fragt die Bürger nämlich nicht nur einmal nach ihrer Meinung, sondern häufiger. Experten und Entscheider müssen immer wieder auf die Argumente der Bürger eingehen, und diese durchlaufen ihrerseits einen Lernprozess .

Dauert das nicht furchtbar lange?

Es gibt politikwissenschaftliche Erkenntnisse, dass derart gründliche Erörterungen oftmals schnellere Entscheidungen, mehr Konsens und höhere Nachhaltigkeit bewirken.

Es wird nicht reichen, nur neue Diskussionsforen anzubieten. Die Leute wollen auch wissen, dass sie die politischen Entscheidungen tatsächlich beeinflussen können.

Ja, herkömmliche Mediationsverfahren sind oft nicht entscheidungsnah genug. Ein neues Verfahren wäre beispielsweise die Einrichtung von Zukunftskammern.

Wie soll das funktionieren?

Eine Zukunftskammer stellen wir uns als als dritte Säule der parlamentarischen Demokratie im Gesetzgebungsverfahren vor. Die Mitglieder dieses Gremiums würden nicht nach parteipolitischen Kriterien oder durch Lobbys benannt, sondern unter engagierten Bürgern und Bürgerinnen ausgelost.

Sollen diese Zukunftskammern dieselbe Macht haben wie die Parlamente?

Nein, wir wollen ja keinen Regimewechsel der repräsentativen Demokratie. Sie haben kein absolutes Vetorecht, sondern führen eine Art Nachhaltigkeitsverträglichkeitsprüfung durch, deren Ergebnis die Parlamente abwarten und in ihrer Entscheidung berücksichtigen müssten. Das hat nicht das Geringste mit Ökodiktatur zu tun, sondern ist Ausdruck großen Vertrauens in die Leistungs- und Erweiterungsfähigkeit der Demokratie.

Wenn das politische System an die Grenzen der Unzufriedenheit seiner Bürger stößt, deutet das ebenfalls auf Veränderungen in der Ökonomie hin. Gibt es auch neue wirtschaftliche Akteure, die das gegenwärtige System infrage stellen?

Die Aufgeschlossenheit in den Unternehmen für Fragen der Energiewende, neuer Mobilitätsmuster und veränderter Lebensstile war für uns die interessanteste Erfahrung der letzten Zeit. Man findet sie im mittleren Management vieler Firmen, aber auch unter jüngeren Vorständen, die ohnehin an einer weniger starren Unternehmenskultur Interesse haben. Die wollen etwas Neues machen, etwas Aufregendes und Sinnvolles produzieren und vermarkten, jenseits der bloßen Gewinnerwartung. Das Gehabe eines Jürgen Großmann von RWE, der auf Biegen und Brechen an seinen Atomkraftwerken festhalten will, stößt bei ihnen auf große Skepsis, um nicht zu sagen: Es ist ihnen peinlich. Diese neue Generation wird kaum noch durch die Wirtschaftslobby vertreten, die dem Umweltminister am Montag die Leviten lesen wollte. Auch in der Wirtschaft ist ein Kulturwandel im Gange, und Autokraten sind nicht nur bei den arabischen Nachbarn Auslaufmodelle.

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