Die Kunst im Müll

DOKU In „Wasteland“ begleitet Lucy Walker mit der Kamera den brasilianischen Künstler Vik Muniz bei einem Kunstprojekt mit Müllsammlern auf der größten Müllkippe der Welt

Nichts scheint weiter von den schönen Künsten entfernt zu sein als eine Müllkippe, und ausgerechnet dort wollte Muniz seine Kunstwerke produzieren

VON WILFRIED HIPPEN

„Kunst besteht darin, Materialien durch Ideen zu verwandeln!“ Diese Definition von Vik Muniz mag Kunsttheoretikern etwas mager erscheinen, doch sie bringt dessen Methode schön auf den Punkt. Muniz verfremdet seine Fotografien, indem er sie mit ungewöhnlichen Stoffen nachzeichnet. Zuerst machte er so Bilder aus Zucker von den Kindern der Arbeiter auf einer Zuckerplantage, später arbeitete er mit Dreck, Diamanten und Erdnussbutter. Der in Brasilien in armen Verhältnissen aufgewachsene Muniz reüssierte in New York und kehrte für sein neustes Projekt zurück in seine Heimat.

Sein nicht unbescheidener Anspruch war dabei, die sprichwörtliche Scheiße in Gold zu verwandeln. Nichts scheint weiter von den schönen Künsten entfernt zu sein als eine Müllkippe, und ausgerechnet dort wollte Muniz seine Kunstwerke produzieren. Jardin Gramacho in Rio de Janeiro ist die größte Müllhalde der Erde. Etwa 1300 Müllsammler, die sogenannten Catadores suchen dort täglich den Abfall der Stadt nach wiederverwertbaren Materialien ab. Und mit diesen Stoffen wollte Muniz zusammen mit den Müllsammlern arbeiten. Dass dabei der Prozess spannender und letztlich auch bedeutender ist als die fertigen Werke, war zumindest der Filmemacherin Lucy Walker wohl von Anfang an klar. Sie hatte in ihrer preisgekrönten Dokumentation „Blindsight“ über den Versuch von sechs blinden Teenager, die Nordseite des Mount Everest zu besteigen, schon ein ähnlich phantastisches Projekt mit der Kamera begleitet.

Hier folgt sie nur anfangs Muniz bei seiner Arbeit, die zuerst daraus besteht, möglichst eindrucksvolle Porträt-aufnahmen von einer Handvoll von Müllsammlern zu machen. Indem sie diese bei ihrer Arbeit zeigt, ihnen zu ihren Wohnstätten folgt und sie ihre Geschichten erzählen lässt, wird der Film immer mehr zu einer Studie dieser Gruppe von Müllsammlern, die eine erstaunlich komplexe und funktionstüchtige Gemeinschaft bilden. Sie haben eine Gewerkschaft, die für ihre Rechte kämpft und ein Krankenhaus unterhält. Aus im Müll gefundenen Büchern hat ein Müllsammler eine kleine Bibliothek zusammengestellt in der nicht nur der Da Vinci Code sondern auch die Schriften von Machiavelli zu finden sind. Eine ältere Frau kocht aus den gesammelten Lebensmitteln jeden Tag einen riesigen Eintopf und viele sind stolz auf ihre Arbeit (da sie weder betteln noch sich prostituieren), obwohl viele über sie im wahrsten Sinne des Wortes die Nase rümpfen.

Neben der 18jährigen Suelem, die Muniz mit ihren beiden Kindern im Stil eines Marienbilds fotografiert, ist Tiao, der Gründer und Präsident der Gewerkschaft die schillerndste Persönlichkeit auf der Müllkippe. Der leidenschaftliche junge Mann hat das Charisma eines Arbeiterführers und nicht umsonst fotografiert Muniz ihn in einer Nachahmung des berühmten Gemäldes als den ermordeten Marat in der Badewanne. Wie die anderen Fotos wurde auch dieses riesig auf dem Boden einer Lagerhalle nachgezeichnet und dann mit recyceltem Materialien aufgefüllt, sodass schließlich die Bilder der Müllsammler aus gesammeltem Müll bestanden.

Tiao reist schließlich mit Muniz nach London, wo auf einer Auktion ein Foto des aus Müll geformten Fotos von ihm (so kompliziert ist moderne Kunst nun mal) für über 50000 Dollar verkauft wurde. Vorher hatte es lange Diskussionen zwischen Muniz und seiner Frau darüber gegeben, ob es nicht grausam wäre, Tiao in die reiche Kunstwelt zu entführen und ihn dann wieder zurück in den Müll zu schicken. In solchen Sequenzen reflektieren der Künstler wie auch die Filmemacherin darüber, ob sie nicht letztlich doch die Müllsammler benutzen. Dagegen spricht die Schönheit der fertigen Werke und der Stolz der Catadores, die sie zu recht auch als ihre Arbeiten ansehen. In der Ausstellung zeigen sie einander aufgeregt, welche Teile auf den Bildern sie gesammelt und gelegt haben. Ideen verwandeln nicht nur Materialien, sondern auch Menschen.