Die Welt in die Provinz geholt

BOHEME „Die Wolke“, Buchhandlung in Ravensburg, gibt auf

Ein Toast auf die letzten Bohemiens dieser untergehenden autonomen Zonen!

Die Buchhandlung „Wolke“ in Ravensburg gehörte zu dem Netz engagierter Buchhandlungen, die sich in Westdeutschland im Gefolge der außerparlamentarischen Bewegungen gründete. Als Matthias Bräuning und Bärbel Magin ihren kleinen Laden 1980 in der Ravensburger Altstadt eröffneten, gab es kein Internet, zum Plattenladen fuhr man nach Stuttgart, Zürich oder München, und Kneipen schlossen in der 50.000 Einwohner zählenden Stadt um 23 Uhr.

Der Zugang zur Welt war medial mühsam, man musste selber etwas dafür tun. Die Buchhandlung in der Ravensburger Altstadt wurde neben Jugendhaus oder Gasthaus Räuberhöhle zum Treff lokaler Außenseiter. Punk und existenzialistische Literatur erweiterten Anfang der 1980er Jahre den provinziellen Blick. Es war kein kleines Kunststück, in dieser tendenziell kultur- und intellektuellenfeindlichen Umgebung ein Geschäft wie „Die Wolke“ zu etablieren. Sie brachte Buch- und Subkultur in den frühen 1980er Jahren zusammen und pflegte eine literarisch-snobistische Haltung, die mit einfachen Klassen- oder Parteidogmen nichts zu tun hatte. Selber kaum mehr als Hartz IV zu verdienen, aber dennoch selbstbestimmt zu bleiben und mit Wohlhabenden Wein zu trinken, es schließt sich nicht aus.

An Orten wie Ravensburg waren die Grünen schon früh sehr stark, doch war die Stadt lange eine Hochburg des unaufgeklärten Flügels der baden-württembergischen CDU. Da stellten schon etwas anders gestaltete Schaufenster eine unglaubliche Provokation dar, speziell wenn es um Moral- und Sexualvorstellungen ging, und zogen Steine und Brandsätze nach sich. Doch heute ist vieles anders. Mit dem biologischen Ableben der NS-geprägten Generation ist auch auf dem Land das Leben liberaler geworden. Die Butzenfenster sind aus den Wirtshäusern verschwunden und Gedenksteine erinnern auch in Oberschwaben an ermordete Juden und Sinti und Roma. Doch mit den gepflegten Fußgängerzonen und der schönen neuen Amazon-Welt verschwinden auch die einst im Gegensatz zur alten Welt errichteten Territorien.

Das neue Offene, es wird auch anonymer werden und vielleicht ist das auch gut so. Jedenfalls sind es die Bräunings und Magins, deren – welch antikes Wort – Basisarbeit den geistigen Umschwung im Ländle Richtung Kretsch und Grün-Rot erst mit ermöglichte. Ein Toast auf die letzten Bohemiens dieser untergehenden temporären autonomen Zonen, die nicht in die Großstädte flüchteten und dennoch Großstädter waren, die im Sommer auf der Alm Vieh hüteten, um im Winter den Höhlenbewohnern der Stadt gute Literatur zu verkaufen. Die gibt es, falls Sie in der Nähe sein sollten, noch bis 11. Juni zum halben Preis.

ANDREAS FANIZADEH