Möge das Monster

KANNIBALEN Ein virtuos inszeniertes Spielfilmdebüt aus Mexiko-Stadt ist Jorge Michel Graus „Wir sind was wir sind“

Gefressen werden die Nächstschwächeren. Doch auch die haben ihre Verteidigungsstrategien

VON SVEN VON REDEN

Vampire, Zombies und Serienkiller saugen, beißen und metzeln sich seit Jahrzehnten erstaunlich erfolgreich durch die Filmgeschichte. Im Kinopanoptikum der Monster und Massenmörder sind die Kannibalen dagegen die wahren Parias geblieben (Hannibal Lecter mal ausgenommen). Lediglich im italienischen Horrorfilm der späten 70er-, frühen 80er-Jahre krochen sie oft aus dem Dschungel, dass sich die Grundzüge eines eigenen Subgenres abzeichneten. So krude und sadistisch diese Filme oftmals sind, einige haben einen geradezu antiimperialistischen Impetus. Die wahren Monster sind nicht die „wilden“ Kannibalen unentdeckter Stämme Südamerikas, sondern die weißen Eindringe, die sie für ihre Zwecke ausbeuten und oftmals einfach umbringen.

Jorge Michel Graus Kannibalenfilm „Wir sind was wir sind“ spielt in Mexiko-Stadt und könnte filmisch nicht weiter von diesen Exploitationmachwerken entfernt sein, aber eins hat er mit ihnen gemein: Er weiß, dass Horror erst subversiv wird durch ein Mindestmaß an Empathie mit den Monstern. Der Debütfilm des Mexikaners beginnt in einer gesichtslosen Shoppingmall. Ein älterer, etwas verwahrlost wirkender Mann fährt eine Rolltreppe hoch. Mit verzweifelt-hilflosem Blick wankt er an Schaufenstern vorbei. Als er vor einem Geschäft stehen bleibt, verscheucht ihn sofort einer der Verkäufer. Ein paar Schritte später bricht der Alte zusammen, ohne dass es jemanden kümmern würde. Er speit eine dunkle Flüssigkeit aus und stirbt. Wortlos zerren zwei Securitymitarbeiter die Leiche fort, eine Putzfrau wischt die Flecken vom Boden. Das Geschäft kann weitergehen.

Dass der arme Alte ein Kannibale war und an einer Überdosis Leichengift gestorben ist, wird erst klar, als bei der Obduktion ein Frauenfinger in seinem Magen gefunden wird. „Sie wären überrascht, wie viele Menschen in dieser Stadt Menschen essen“, erzählt der Leichenbeschauer den ermittelnden Polizisten lächelnd. Wie wörtlich er das meint, bleibt offen. Szenen wie diese legen natürlich nahe, „Wir sind was wir sind“ als Allegorie auf die mexikanischen Verhältnisse zu lesen – als Kommentar auf ein Land, in dem in den letzten fünf Jahren je nach Zählung zwischen 30- und 40.000 Menschen in einem Drogenkrieg ums Leben gekommen sind, in dem gnadenlos die Willkür des Stärkeren zählt. Doch Grau verweigert eine allzu einfache Lesart.

Die Motive für den Kannibalismus des Alten und seiner weiter mordenden Familie bleiben im Dunkeln. Seine Frau und die drei Kinder, zwei Söhne, eine Tochter, sprechen untereinander vom „Ritual“, für das sie auch nach dem Tod des Ernährers Frischfleisch besorgen müssen. Haben sie religiöse Gründe? Oder treibt sie einfach nur Hunger? Nachts ziehen die Brüder verzweifelt los und versuchen ein Straßenkind zu entführen. Als das nicht gelingt, haben sie auf dem Straßenstrich mehr Glück. Später muss ein Schwuler dran glauben. Spielt die unterdrückte Sexualität der Brüder bei der Opferwahl eine Rolle? Der eine ist offenbar homosexuell, der andere hegt inzestuöse Neigungen seiner Schwester gegenüber. Klar ist: Die Nahrungskette folgt der sozialen Hierarchie. Gefressen werden die Nächstschwächeren. Doch auch die haben ihre Verteidigungsstrategien und selbst gewählten Beschützerfamilien: Das Straßenkind kann fliehen, weil ihm andere Straßenkinder zur Hilfe eilen; die Prostituierten können zwar ihre Kollegin nicht beschützen, aber dafür gelingt es ihnen, gemeinsam Rache zu nehmen. Die Polizei dagegen ist nur für den comic relief zuständig. „Wir lösen keine alten Fälle“, erklärt ein Kommissar einmal. „Neue auch nicht“, ergänzt sein Kollege. Das ist der direkteste Kommentar zur Lage der Nation im Film.

Dass die Vagheit von Jorge Michel Graus Film auf Dauer nicht beliebig wirkt, liegt an seiner virtuosen Inszenierung, die mehr mit Stimmungen und Suspense arbeitet als mit Splatterbildern und Schockmomenten. Der Regisseur nennt Claire Denis und Michael Haneke als Vorbilder. Was „Wir sind was wir sind“ allerdings ganz deutlich zeigt, ist, wie viel ungenutztes Potenzial das Thema Kannibalismus noch für das Kino birgt. Für eine allegorische Verarbeitung von Themen rund um Religion, Sexualität und Macht ist der Kannibale eigentlich besser gerüstet als seine filmisch erfolgreicheren Kollegen Vampir, Zombie und Serienkiller.

■ „Wir sind was wir sind“. Regie: Jorge Michel Grau. Mit Paulina Gaitán, Carmen Beato u. a. Mexiko 2010, 90 Min.