Wahrheit oder Pflicht

GRUPPENDYNAMIK Ohne fiese Jury: An der Kreuzberger Bühnenkunstschule Academy erfahren die Jugendlichen mehr über sich und die Nähe zu anderen

Schauspielern kann nur der, der sich öffnet, Dinge von sich preisgibt, über seinen eigenen Schatten springt: „Sonst würde diese ganze Energie zwischen uns gar nicht entstehen“

VON KRISTINA RATH

Fünfzehn Jugendliche rennen wild durcheinander, laut ist die Musik. Dann ist Stille, alle bleiben stehen. „Wahrheit oder Pflicht?“, fragt ein Mädchen. Ein anderes antwortet tapfer: „Wahrheit.“ Betretenes Schweigen. „Okay, ähm? Hast du Haustiere?“ Die anderen stöhnen enttäuscht.

Die letzte Produktion der Bühnenkunstschule Academy war eine Collage von Szenen rund um das Thema „Jugend und Sexualität“. Klar, dass man da am Anfang ein bisschen befangen ist. Aber das gab sich schnell mit den Fragen des Spiels. „Hast du eine Freundin?“, „Wen von uns findest du am attraktivsten?“, „Stelle eine Pornoszene nach!“

„Wahrheit oder Pflicht“ – das Partyspiel lieh dem Stück nicht nur seinen Namen, es diente den Schauspielern auch als methodische Folie. Denn schauspielern kann nur der, der sich öffnet, Dinge von sich preisgibt, über seinen eigenen Schatten springt, sagt Robin Rabe: „Sonst würde diese ganze Energie zwischen uns gar nicht entstehen.“ Mit seinen 20 Jahren ist er einer der Ältesten in der Gruppe.

Die Jüngsten sind gerade mal 14 Jahre alt, so wie Pauline Werner. Eben hat das zierliche Mädchen noch auf der Bühne gestanden und „Ich bin immer noch grün hinter den Ohren“ gesungen. Jetzt steht sie barfuß auf dem Hof des Aufbau Hauses, die Ponyfransen hängen ihr keck ins Gesicht. Auch sie ist überwältigt von der Nähe zwischen den Mitgliedern der Academy. Neben den fünf Stunden Proben in der Woche treffen sich die Jugendlichen auch privat. Das bleibe gar nicht aus, sagt Robin, schließlich wisse man von den anderen Dinge, die sie normalerweise niemandem erzählen. Pauline kichert ein bisschen: „Es war schon ziemlich interessant, die anderen erzählen zu hören. Ich selbst hatte von dem Thema ja nicht so viel Ahnung.“

Die 17-jährige Noelle Niemoth hat über eine Bekannte von dem Casting der Academy erfahren. Zwar wirbt die Bühnenkunstschule in Kreuzberger und Friedrichshainer Schulen, aber erfolgreicher ist die Mundpropaganda. Einige Mitglieder kommen sogar aus dem brandenburgischen Umland. „Wenn man Casting hört, denkt man ja gleich an ‚Deutschland sucht den Superstar‘“ wehrt Regisseurin Rachel Hameleers ab. Bei der Academy gibt es keinen Recall und keine fiese Jury, sondern einen vierstündigen Workshop für Schauspiel, Gesang und Tanz. Dort können die Bewerber sich ausprobieren. „Uns kommt es bei der Auswahl nicht nur auf Talent, sondern vor allem auf die Motivation an“, sagt Hameleers.

Von den rund 200 Bewerbern – die Mädchen sind klar in der Überzahl – werden je 15 pro Genre genommen. Noelle und Pauline haben sich für Gesang entschieden, Robin für Schauspiel. Im ersten Lehrjahr, der „Academy eins“, werden die 13- bis 19-Jährigen nach Disziplinen getrennt unterrichtet; zum Abschluss gibt es eine große Revue. Wer möchte, kann sich danach für das zweite Lehrjahr bewerben, in dem genreübergreifend ein Stück einstudiert wird. „Wenn wir anfangen zu proben, gibt es nie ein fertiges Script“, sagt Hameleers, „aber Wahrheit oder Pflicht ist das erste Stück, das die Jugendlichen fast komplett selbst geschrieben haben.“ Und die „Rollen sind so gewählt, dass sie zu den Jugendlichen passen, in jeder Rolle stecken 100 Prozent des Schauspielers – aber vielleicht Facetten, die im täglichen Leben nicht zur Geltung kommen.“

2004 kam die erste Acadamy-Show auf die Bühne; ab morgen zeigen wieder 45 junge Menschen ihr Talent in der Revue „Blutrot“. „Wahrheit oder Pflicht“ wurde im Mai gespielt.

Für Robin, Pauline und Noelle ist nun offen, wie es weitergeht. Robin sieht das Theaterspielen als guten Ausgleich zum eher trockenen Informatikstudium. Früher habe er überlegt, sich an einer Schauspielschule zu bewerben, aber jetzt sei er sehr zufrieden mit der Kombination, sagt er. Pauline wird auf jeden Fall weiter Musik machen. Seit Kurzem bekommt sie Gesangsunterricht. Noelle möchte gern ein Freiwilliges Soziales Jahr in Afrika absolvieren und dort mit Jugendlichen kreativ arbeiten. Über Gruppendynamik weiß sie jedenfalls schon eine Menge.

■ „Blutrot“: 16.–19. und 23.–25. Juni, Alte Feuerwache, Oranienstraße 96. Casting-Infos für das nächste Academy-Jahr: www.alte-feuerwache.de/academy