Lebensausflüge eines Austauschschülers

BILDUNGSROMAN Einmal in die weite Welt und zurück: „Alle Toten fliegen hoch“ von Joachim Meyerhoff

Spektakuläres passiert – aber sehr schön sind die ruhigen Passagen, etwa über gewohnte und neue Betten

VON DETLEF KUHLBRODT

Von Schleswig aus gesehen liegt Hamburg schon fast in Italien. Als ehemaliger Schleswig-Holsteiner liest man den autobiografischen Roman „Alle Toten fliegen hoch“ von Joachim Meyerhoff mit besonderem Interesse. Im Zentrum steht das Jahr – es wird 1985 gewesen sein –, das der Ich-Erzähler als Austauschschüler in Laramie im Bundesstaat Wyoming verbracht hat. Bevor er allerdings, nach hundert Seiten, in dem eher unhippen Städtchen bei seinen Gasteltern gelandet ist, erzählt Meyerhoff oft in Rückblenden von den Jahren bis dahin, die er in Schleswig verbracht hat; ein Potpourri sozusagen, the best of Jugend. Lakonisch wie in Norddeutschland üblich, sensibel, sehr komisch oft, zugleich auch ernst.

Auf der ersten Seite schreibt der Erzähler, er gehöre „leider nicht zu den genialischen Menschen […], die gestochen scharfe Bilder ihrer frühesten Lebensjahre in wohlbehüteten Gehirnkammern aufbewahren, zum Beispiel, wie sie mit anderthalb gegen eine geschlossene Glasschiebetür geknallt sind“, auf der zweiten Seite erzählt er genau diese Geschichte. Gerade das autobiografische Erzählen handelt immer auch von seinen Möglichkeitsbedingungen: Spiegel sind ein Leitthema des Buchs – Kampffischen wird vor dem Kampf ein Spiegel vor die Nase gehalten, um sie in Stimmung zu bringen, denn „nichts hasst der Kampffisch so sehr wie sich selbst“; blind vor Wut stürzt er sich dann auf den anderen.

Der Erzähler dagegen registriert erstaunt, oft amüsiert, was sich verändert hat, wenn er sich im Spiegel betrachtet; wenn sich Situationen oder Konstellationen in Abweichungen wiederholen, wenn sich die eigene Familie in der Gastfamilie spiegelt, wenn der Waldsee, an dem der Held am Anfang mit seinen Freunden wild posiert, um hübsche Mädchen zu beeindrucken, in der Schlussszene wieder auftaucht.

Das Erzählen ist nicht weltanschaulich gehemmt wie in manchen autobiografischen Romanen von Autoren, die sich als Teenager einer wichtigen Sache, einer Idee oder Gemeinschaft, Gruppe, Szene verschrieben hatten und nun irgendwie auch exemplarisch Erfahrungen vermitteln wollen; keine Traumata oder Verletzungen müssen aufgearbeitet werden; es ist ein eher ruhiges Erzählen, in dem sich der Autor immer wieder seiner selbst vergewissert, erstaunt oft über das, was ihm begegnet.

Bis er nach Amerika aufbricht, sind es viele kunstvoll ineinander verschachtelte Anekdoten: von dem kleinen Jungen, der versucht, auf dem Gehsteig eine Kuh in den Sand zu malen, plötzlich von einem fremden Mann gepackt wird und über eine Gartenhecke in den Garten fremder Leute geworfen wird, die sich, statt Mitleid zu haben, furchtbar aufregen; von einem Klassenausflug zu einer Rutschenausstellung, die der kleine Junge nicht genießen kann, weil er unglücklicherweise eine bremsende Lederhose anhat; von den Kampffischturnieren, die sein älterer Bruder veranstaltet.

Manchmal gibt es längere Exkurse – über die Rendsburger Hochbrücke, die ein paar Jahre lang für großen Unmut sorgte, weil die Eisenbahnen ihre Toiletten direkt über dem Stadtteil Rendsburg-Schleife entleerten; manchmal auch komische Verknappungen, wenn es um die Heldenabteilung des kleinen Friedhofs geht, in dem er und sein Bruder tote Kampffische verscharrten. „Brettchen mit klangvollen Namen schmückten die Gräber, ‚Diamond Dog‘, ‚Major Tom‘ und ‚Ziggy Stardust‘.“ (Der Satz ist ein schön pointierter popmusikalischer Diskurs, der auch daran erinnert, dass die glühendsten David-Bowie-Fans fast noch Kinder waren.)

Es macht großes Vergnügen, Meyerhoffs Buch zu lesen, seinen zurückhaltenden Helden – einen Arztsohn, dessen Eltern aus dem Saarland stammen – zu begleiten; an den kleinen See im Wald, wo die hübschen Realschülerinnen barbusig baden (eine von ihnen wird seine erste Freundin); nach Hamburg, wo er mit arroganten Poppern um die Plätze für den Schüleraustausch konkurriert, die Herbert- und die Hafenstraße kennenlernt; nach Amerika schließlich.

Die kulturellen Unterschiede sind sehr schön beschrieben. Es passieren durchaus spektakuläre Dinge – er wird Zeuge eines Initiationsrituals, bei dem dem zu Initiierenden ein Mal auf den Hintern gebrannt wird, er besucht ein Gefängnis und freundet sich mit einem zum Tode Verurteilten an usw. Am besten gefielen mir aber die Passagen, in denen Meyerhoff – dabei fast Proust variierend – über den Unterschied zwischen dem gewohnten und dem neuen Bett schreibt, Lehrer und traurige Motivationscoaches an der Highschool charakterisiert oder von einem ihm in der Basketballmannschaft zugeteilten Jungen der Schule berichtet, dessen einzige Aufgabe es ist, „the German“ ununterbrochen Mut zuzusprechen.

Der Weg zum Erwachsenwerden führt über die Erfahrung des Todes; während er noch in Amerika ist, stirbt sein Bruder bei einem Autounfall. Die Passagen über den Tod und die Trauer in der Familie sind eindringlich und wahr.

„Alle Toten fliegen hoch“ ist eigentlich ein klassischer Bildungsroman: Der jugendliche Held zieht hinaus in die Welt, macht existenzielle Erfahrungen und kehrt als ein anderer zurück. Vor dem Buch gab es Theaterabende, an denen Meyerhoff, der seit 2005 zum Ensemble des Wiener Burgtheaters gehört, den sechsteiligen Zyklus „Alle Toten fliegen hoch“ (das Buch ist nur der erste Teil) vorgetragen hatte. Das macht er immer noch. Zum Beispiel heute Abend im Berliner Maxim-Gorki-Theater.

Joachim Meyerhoff: „Alle Toten fliegen hoch“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011, 320 Seiten, 18,95 Euro