Die roten Erdbeeren und die Fäulnis

SHANSHUI-MALEREI Kritik unter dem Mantel der klassischen Form: Zwei Schweizer Ausstellungen zur zeitgenössischen chinesischen Kunst, eine in Luzern, die andere in Winterthur, klären über die problematische Modernisierung im Reich der Mitte auf

Ai Weiweis Äußerungen im Netz lassen sich als soziale Plastik in der Tradition von Beuys betrachten

VON URSULA WÖLL

Auf den ersten Blick schaut das zehn Meter breite Landschaftspanorama „View of Tide“ aus wie traditionelle chinesische Shanshui-Malerei, deren Meister seit 1.000 Jahren ein Repertoire aus Bergen, Felsen, Wasser und Bäumen immer wieder neu variieren (shan bedeutet Berg und shui Wasser). Selbst die Nebelschwaden, den lebendigen Odem symbolisierend, fehlen nicht auf dem klassischen Querformat aus Reispapier. Doch das 2008 entstandene Werk zeigt nicht die Schönheit der Natur, sondern die zerstörerischen Folgen der Modernisierung. Bald entdeckt man nämlich, dass sich Hochhaus-Cluster zu Bergen türmen, die Wälder aus Strommasten bestehen und Autobahnen die Flüsse ersetzen.

Aus tausend kleinen digitalen Bildern, die er in seiner Heimatstadt Schanghai aufnahm, komponierte der 1980 geborene Yang Yonglian am Computer diesen virtuellen Stadtmoloch. „Unter dem Deckmantel der klassischen Form kritisiere ich unsere Zeit und Gesellschaft“, schrieb der Künstler im Februar 2011 auf seiner Website. Yang Yonglian gehört zu den rund 40 herausragenden chinesischen Künstlerinnen und Künstlern, die das Kunstmuseum Luzern in einer fulminanten Ausstellung „Shanshui – Poesie ohne Worte? Landschaft in der chinesischen Gegenwartskunst“ präsentiert.

Botschafter in China

Die 70 Großformate, Skulpturen, Videos und Installationen sind Leihgaben des Sammlers Uli Sigg, der als ehemaliger Schweizer Botschafter in China ein profunder Kenner und Freund vieler dortiger Künstler, unter ihnen Ai Weiwei, ist. Der Rekurs auf Elemente der Shanshui-Malerei wird nicht immer so deutlich wie bei Yang Yonglian und die intendierte Kritik oft verschlüsselter.

So formt etwa Liu Wei die aus dem Nebel tauchenden Berge aus menschlichen Körpern. Frauen und Männer strecken ihre nackten Hintern auf seinem wandfüllenden Foto „It Looks like a Landscape“ gen Himmel. Durch solch spielerischen Umgang mit der Tradition erinnert Liu an das verlorene Empfinden für den eigenen Körper als Teil der Natur.

Die Zerstörung alles Schönen vollzieht Qiu Anxiong in seinem Animationsfilm im Zeitraffer. Am Ende türmt sich ein gigantischer Abfallberg, dem als eindrucksvolles Menetekel eine riesige Ratte entsteigt. Trotz des hellen Oberlichts – das Kunstmuseum bildet die oberste Etage des Kultur- und Kongresszentrums am See – stellt sich angesichts so vieler Verluste Melancholie ein. Daran ändern auch die roten Erdbeeren nichts, die Zhang Xiaotao auf seinem Ölbild „Decay of Landscape“ verschimmeln lässt.

Nicht nur die rasante Modernisierung Chinas verweist viele Künstler auf die Landschaftsmalerei, sondern auch die Suche nach unverwechselbarer künstlerischer Identität. Während der Kulturrevolution galt der Rekurs auf Traditionen als reaktionär, später, nach der Öffnung Chinas, war die westliche Kunst das Maß aller Dinge. Nun besinnen sich die jüngeren Künstler wieder auf die eigene Kunstgeschichte. Ganz undogmatisch lassen sie sich sowohl von der Shanshui-Landschaftsmalerei als auch von westlichen Stilen und Techniken inspirieren.

Ein Tagebuch auf Filmrollen

Meisterhaft tanzt Ai Weiwei auf beiden Hochzeiten. Seine farbige C-Print-Serie „Provisional Landscapes“ ist in der Luzerner Ausstellung wie im Fotomuseum in Winterthur vertreten. Anstelle idealer Landschaften in Tusche sind Fotos realer Stadtlandschaften im Umbruch zu sehen, brutale Trümmerwüsten, aus denen uniforme Wolkenkratzer wachsen.

Durch die Verhaftung Ai Weiweis am 3. April wurde die Retrospektive seiner Foto- und Videoarbeiten im Fotomuseum Winterthur zu einer Hommage an den Künstler. Ihr Titel „Ai Weiwei – Interlacing“ trifft ins Schwarze. Der vielgereiste Hansdampf, der bei seinen Projekten nicht kleckert, sondern klotzt, ist ein Meister der Vernetzung zwischen Menschen, Medien, Orten und vielem mehr. Sein obsessives Fotografieren begann während der Jahre 1983–93 in New York. Eine Auswahl aus 10.000 analogen Schnappschüssen mit privaten Szenen und Bürgerrechtsdemonstrationen ist in Winterthur zu sehen, vergleichbar einem Tagebuch auf Filmrollen. Alles, was er je angepackt hat, ist penibel dokumentiert: Die Porträtaufnahmen der 1.001 Chinesinnen und Chinesen, die der Künstler durch eine logistische Meisterleistung zur Documenta 12 nach Kassel holte, um Kulturen zu vernetzen. Er fotografierte die Folgen des Erdbebens in Sichuan 2008, das tausende Kinder tötete, weil die Schulen schlecht gebaut waren. Ai Weiwei und seine Assistenten fanden ihre Namen heraus und stellten sie online. Zuletzt dokumentierte er den Abriss seines neuen, von ihm entworfenen Schanghaier Zweigstudios durch eine Nacht-und-Nebel-Aktion der Behörden.

Das Winterthurer Fotomuseum zeigt aber auch zwei Serien, über die sich trefflich streiten lässt. Gleich am Eingang hängt ein riesiges C-Print-Triptychon von 1995, auf dem Ai Weiwei lustvoll eine Urne der Han-Dynastie zertrümmert. Ist das nun Provokation oder doch Aversion gegen das historische Erbe, ein Kontrast zur Luzerner Ausstellung? Verwirrend auch die über Jahre hinweg fotografierte Reihe „Study of Perspective“, auf der jeweils im Vordergrund der Stinkefinger des Künstlers zu sehen ist. Doch beileibe nicht nur vor dem Tiananmen-Platz oder dem Weißen Haus, sondern auch vor vielen Ikonen des Weltkulturerbes wie etwa der Sagrada Familia in Barcelona.

Er habe damit für die absolute Meinungsfreiheit plädieren wollen, heißt es im schönen Begleitbuch, in dem auch viele Texte seiner Blogs nachzulesen sind. Angefangen zu bloggen hat Ai 2005. Im Jahr 2009 sperrten ihn die Behörden, danach nutzte er Twitter. Seine Äußerungen und seine Fotos im Netz, mal banaler Alltagskram, mal politische Statements und Ansichten über gesellschaftliche Missstände, lassen sich als soziale Plastik in der Tradition von Beuys betrachten. Ai praktiziert eine neue Art von Kunst, die viele Menschen einbezieht und die Trennung zwischen Kunst, Leben und Politik aufhebt. „Ich denke, die Kunst hat keine große oder gar keine Zukunft, wenn sie den Anschluss an heutige Lebensweisen und Technologien verpasst“, sagt er.

■ Shanshui, Kunstmuseum Luzern, bis 2. Oktober. Katalog (Hatje Cantz) 39,80 Euro

■ Ai Weiwei, Fotomuseum Winterthur, bis 21. August. Katalog (Steidl Verlag) 45 CHF