Westwärts

TAGUNG Wissenschaftler diskutierten in Berlin über Europa und den Begriff des Westen

„Endet das europäische Zeitalter?“ So fragten sich in Berlin auf dem 6. Akademietag der deutschen Wissenschaftsakademien sieben namhafte Gelehrte. Klar, spätestens seit 1945 war es mit Europas Welthegemonie vorbei. Aber wie steht es mit dem Erbe, das Europa in der ehemals beherrschten Welt hinterlassen hat? Der Historiker Wolfgang Reinhard zeichnete nach, wie sehr in den postkolonialen Staaten die koloniale Struktur nachwirkt, in der Konzentration der Verkehrswege auf den maritimen Export etwa, auf das Wachstum der Megastädte, durch die Übernahme der kolonialen Verwaltungs- und Repressionstechniken. Kulturell aber fühlen sich die Erben Europas enterbt und versuchen, oft mit hybriden Formen der einst aufgezwungenen Kultur, diesen Verlust zu kompensieren. Nichts hindere uns, die enterbten Europäer, daran, uns unsererseits das Erbe anderer Kulturen anzueignen.

Der Politikwissenschaftler Peter Graf Kielmansegg suchte anhand dreier Texte mit universellem Anspruch die Wirkmächtigkeit europäischen politischen Denkens bis in die Gegenwart nachzuweisen. Es waren dies die Unabhängigkeitserklärung der englischen Kolonien Amerikas vom Mutterland 1774, wodurch eine Genealogie begründet wurde, die das Selbstbestimmungsrecht der Völker forderte und schließlich im 20. Jahrhundert allgemeine Geltung erlangte. Zum Zweiten die Menschenrechtserklärung von 1789, die in unseren Tagen universelle Geltung erlangte, und schließlich das Kommunistische Manifest, dessen weltweite Wirkmächtigkeit allerdings mittlerweile erloschen sei.

Von dieser geballten Ladung normativer Beweisführung war in dem Referat des Historikers Jürgen Osterhammel wenig zu spüren. Er widmete sich der Frage „Was war und ist der Westen“ mit den Mitteln einer strikten Historisierung. Nach Osterhammel ist der Begriff „der Westen“ relativ neuen Datums. Vor allem die Vorstellung des Westens als einer das alte wie das „neue“ Europa (gemeint sind die USA) übergreifenden Einheit war dem 19. Jahrhundert fremd, erst recht die Idee einer transatlantischen Bündnis- und Wertegemeinschaft.

Eine politische Pointe

Vom Westen zu sprechen setzte voraus, dass es Territorien gab, die geografisch nicht zu Europa gehörten, allerdings dessen Zivilisationskreis zugeordnet wurden. Vor allem aber war „der Westen“ ein Gegenbegriff zum „Nicht-Westen“. Kein „Westen“ ohne „Osten“. Wobei der „Osten“ sich asymmetrisch zum „Westen“ verhielt. Der „Osten“ war inferior. Auch innerhalb Europas wurde ein Teil des Kontinents vom „Westen“ ausgeschlossen: das östliche und südöstliche Europa, das dem orthodoxen Glauben anhing, wo Staat und Kirche nicht voneinander getrennt worden waren. Im 19. Jahrhundert wurde das russische Zarenreich zum „Nicht-Westen“, zum Völkergefängnis. Der Westen war nicht nur „Nicht-Russland“, sondern später auch „Nicht-China“, wovon die rassistischen Einwanderungsgesetze zeugen. Gehörte Japan seit seiner Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Westen?

Im Zweiten Weltkrieg wurde „der Westen“ zum Kampfbegriff der um die USA und Großbritannien gruppierten Alliierten gegen den internationalen Faschismus. Nach 1945 versammelte er die gegen den Kommunismus auftretenden „West“mächte. Und heute, und morgen? Vorsicht bei Prognosen. Hatte 1980 irgendjemand analysiert, dass 1991 das Ende der Sowjetunion hereinbrechen würde?

Die Veranstaltung hatte doch noch eine aktuelle politische Pointe. Von einem jungen türkischen Wissenschaftler wurde Osterhammels ideologiekritischer Vortrag mit den Positionen des Historikers Heinrich August Winkler verglichen, der die EU-Mitgliedschaft der Türkei wegen deren kulturellen Andersartigkeit ablehne. Winkler meldete sich daraufhin aus dem Publikum zu Wort, die Türkei genüge gegenwärtig nicht den demokratischen Grundsätzen der EU. Eine spannende Diskussion hätte folgen können – aber schon ertönte das Pausenzeichen.

CHRISTIAN SEMLER