ZWISCHEN DEN RILLEN
: Als sich die Digidub-Produzenten von ihren Sängern emanzipierten

Various Artists „Invasion of the Killer Mysteron Sounds“ (Soul Jazz/Indigo)

Alles beginnt im Jahr 1985, damals programmierte Prince Jammy den Sleng-Teng-Riddim auf einem Casiosynthie

Alle Popgeschichte endet mit einer Compilation. Keine Plattenfirma bestätigt das besser als das Londoner Reissue-Label Soul Jazz. Wenn Soul-Jazz-Manager Stuart Baker ein Genre vermisst, entsteht dabei oftmals das, was die Wissenschaft „Standardwerk“ nennt.

Die zweiteilige „Invasion of the Mysteron Killer Sounds“, Soul Jazz’ eigene Version des digitalen Dub, ist da keine Ausnahme.

Allerdings hat es ihr die Musikgeschichte leicht gemacht. Während die Hallräume des klassischen Dub aus den Siebzigern bis zur letzten Anekdote kartografiert sind, steht die nachfolgende Generation von digitalen Produzenten bis heute im Schatten des Vorwurfs von Homophobie und Sexismus. Durch ihre prominenten Vocalists und eine religiös verbrämte Idee von Sexualität haben sie sich den nicht zu Unrecht eingehandelt.

Reichlich Raum für Geschichtsschreibung also. Wobei „Invasion of the Mysteron Killer Sounds“ eigentlich zwei Stränge von Musikgeschichte erzählt. Der erste beginnt 1985, als Prince Jammy in seinem Kingstoner Studio auf einem billigen Casio-Keyboard den „Sleng Teng“-Riddim programmiert und damit jamaikanische Musik endgültig in die digitale Gegenwart katapultiert hat. Bis heute ist „Sleng Teng“ der Prototyp des digitalen Riddim: von den großen Vocalists besungen und unzählige Male geremixt. Selbst Jammys Lehrer, der Produzent King Tubby, nahm eine Version auf, bei der improvisierte Filter- und Halltechniken wie ein Echo verblassenden Ruhms über dem Basslauf liegen.

Genau sie hat Stuart Baker für seine erste Compilation-Folge ausgewählt - typisch für seine Version von Dub-Geschichte. Die von Baker versammelten Riddims sind fast durchweg bekannte Dancehall-Hits, aber die auf dem Doppelalbum enthaltenen Instrumentalversionen zirkulierten in den meisten Fällen nur als Dubplate oder Bootleg. So erscheint Bakers Auswahl auch weniger als Geschichte, sondern eher als Kompendium: kompiliert aus der Perspektive eines Plattensammlers, der seine Quellen vor Ort auf Jamaika sichtet und sie auch nach ihrem Seltenheitswert auswählt. Erzählerischer geht dagegen der britische Musiker Kevin Martin (The Bug) in seiner Fassung der „Killer Mysteron Sounds“ ans Werk.

Er beginnt mit Steely & Clevies „Streetsweeper“, dessen minimale Streichersamples und trocken programmierte Drumcomputer 1999 den Beginn einer Dancehall-Renaissance markierten. In der Folgezeit mutieren die Riddims. Team Shadetek aus New York formten Digidub zu abstrakter 16-Bit-Electronica, Lenkys „Diwali“ wurde dank synkopisch programmierter Handclaps und einem Sitar-Sample nicht nur ein Dauerläufer auf jamaikanischen Soundsystems, sondern auch der Unterbau für einen amerikanischen R&B-Hit.

Kevin Martin schreibt seine Version der Dub-Geschichte dann auch konsequent transatlantisch, schneidet britische und amerikanische Producer neben jamaikanische und lässt den Virus von Digidub immer wieder mit lokalen Mikrotrends kollidieren. Der Londoner Producer Redlight legt auf „MDMA“ die in der britischen Dancemusik zum Standard gewordenen Neon-Synthesizer über ein klassisches Dancehall-Gerüst und mischt seinen Track so, dass er in Clubs und auf dem iPod-Kopfhörer zugleich zündet. Das Resultat: Im letzten Sommer spielten in der britischen Hauptstadt alle Piratensender „MDMA“ mit Ms Dynamite an den Vocals in Dauerrotation.

Womit „MDMA“ schon fast eine Ausnahme ist. Die Riddims von Grime-Produzenten wie Terror Danjah oder S-X finden in den letzten zwei Jahren auch ohne Unterstützung durch MCs ihren Weg in DJ-Mixe und schreiben so die Geschichte der Emanzipation der Produzenten von den ermüdenden Ritualen ihrer Vocalists, wie sie auf „Invasion of the Killer Mysteron Sounds“ erzählt wird, bis heute fort.

CHRISTIAN WERTHSCHULTE