Die große Unlust und die Unbeweglichkeit

ZUKUNFT Die Friedrich-Ebert-Stiftung lud zu einem Kongress zum Thema Demokratie. Wissenschaft und Politik diskutierten Werte und Institutionen

Das Durchschnittsalter der SPD-Mitglieder liegt bei fast 60

Die Diagnose, dass sich die Demokratie in einer Krise befinde, ist weit verbreitet. Zwar funktionieren die Institutionen noch, aber die Wahlbeteiligung sinkt von Wahl zu Wahl, und das Ansehen des politischen Führungspersonals schwindet dramatisch, wenn es nicht von der Boulevardpresse künstlich aufgepäppelt wird wie im Fall zu Guttenberg. Schon 2008 kam eine Studie der Friedrich-Ebert-Studie zu alarmierenden Ergebnissen: Ein Viertel der Befragten will demnach mit Demokratie, „wie sie bei uns heute ist“, nichts mehr zu tun haben, und nur zwei von drei Befragten halten das politische System für fähig, wichtige Probleme zu lösen.

Am Wochenende veranstaltete die Friedrich-Ebert-Stiftung unter dem Titel „Demokratie Deutschland 2011. Herausforderungen und Perspektiven“ eine Tagung, auf der rund 50 Wissenschaftler und Politiker vor einem bunt gemischten Publikum referierten und diskutierten. In zwölf Fachforen wurde das weitläufige Thema Demokratie – oszillierend zwischen Wirtschaft, Medien, Partizipation, Geschlecht und Bildung – übersichtlich gegliedert. Die Eröffnungsveranstaltung, das „Gipfeltreffen“ (Peter Struck) zwischen Politik und Wissenschaft, bestritten unter der diskreten Leitung von taz-Chefredakteurin Ines Pohl der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel und der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler. Gabriel watschte zwischendurch die Regierung Merkel/Rösler als „Turbolader für Politikverachtung“ ab, überraschte aber sonst durch seine Offenheit und seinen Realismus: „Wir bewegen uns nicht, deshalb verlieren wir.“ „Bewegung“ interpretiert Gabriel als Öffnung. Das Durchschnittsalter der SPD-Mitglieder liegt heute bei fast 60 Jahren. Damit fehlt der Partei eine Verankerung in den Lebensverhältnissen großer Teile der Bevölkerung. Mit dem Problem der Überalterung haben alle gesellschaftlichen Großorganisationen von den Kirchen bis zu den Gewerkschaften zu tun. Die Öffnung der SPD für vielleicht nur vorübergehend hineinschnuppernde Interessierte, die nicht Mitglieder sind und es auch nicht werden wollen, hält Gabriel für den besseren Weg als die Berufung von Kommissionen und die Mitgliederwerbung an Ständen in den Fußgängerzonen.

Gegenüber dem rhetorisch glänzend disponierten Gabriel hatte es Münkler schwer. Er reagierte abwechselnd mit trockenen akademischen Unterscheidungen und Anekdoten aus seiner Zeit als junger Kommunalpolitiker in Hessen. Gegenüber dem auf „Gestaltungswillen“ und „Vertrauen in die Gestaltbarkeit des eigenen Lebens“ pochenden Gabriel wirkte die Krisendiagnose Münklers matt. Bei ihm lief – in Carl Schmitt’scher Manier – fast alles auf einen fehlenden Willen hinaus, „riskante Entscheidungen“ zu wagen. Angesichts der Nacht-und-Nebel-Aktionen, in denen die Regierung Milliardenkredite und -bürgschaften vergab, löste Münkler mit dem Hinweis auf fehlende Risikobereitschaft eher Kopfschütteln aus.

Im Forum „Wirtschaft und Demokratie“ wurden krude Thesen von Klaus Schroeder (Uni Kassel) und Wolfgang Uellenberg-van Dawen (Ver.di) zurechtgerückt. Die Demokratie wird demnach in ihrem Kern bedroht durch „die Dominanz“ der „finanzmarktbetriebenen Transnationalisierung“ (Schroeder) über die national beschränkte Demokratie. Der Ausbau der Mitbestimmung sowie die Zähmung und Kontrolle der Finanzmärkte sind Schroeder zufolge unumgänglich, wenn man das System Demokratie gegen das System Wirtschaft stärken will.

Zu den besonders anregenden Foren gehörten das über „normative Demokratiekonzepte“ und jenes über „Medien und Demokratie“. Thomas Meyer (Chefredakteur der Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte) machte deutlich, dass es in der Demokratie nicht nur um Freiheit wovon und wozu geht, also um den Vorrang und die Autonomie des Subjekts, sondern auch um die Frage „Freiheit wodurch“. Entgegen dem urliberalen Verständnis ist der Staat nicht nur eine Rechts- und Sicherheitsagentur, sondern eine Instanz, die Freiheit und Chancengleichheit der Einzelnen durch aktive Politik fördern kann und muss.

Im Forum „Medien und Demokratie“ setzte sich der Zürcher Soziologe Kurt Imhof temperamentvoll für eine realistische Analyse der neuen Medien, des Gratis- und Billigjournalismus sowie der sozialen Netzwerke ein: Diese Medien begünstigen nach Imhof den Rechtspopulismus und senken das Informationsniveau, weil sie den Logiken von Inszenierung und Personalisierung folgen. Seine These, der Qualitätsjournalismus wie auch der Netzjournalismus steckten in der Krise, weil Ersterer 30 Prozent des Anzeigenaufkommens verloren habe und der Netzjournalismus über keine tragfähige ökonomische Basis verfüge, blieb unbestritten. Über die Wege aus der Krise war jedoch zwischen Netzkritikern und Netzenthusiasten keine Einigkeit zu erzielen. RUDOLF WALTHER