Der Maestro und sein Intendant

MUSIKTHEATER Intendant Jürgen Flimm möchte, dass auch an der Staatsoper in Berlin mehr neue Opern gespielt werden. Er hat dafür extra ein Festival eingerichtet, das jetzt zum ersten Mal stattfand. Richtig gut wird es aber nur, wenn Barenboim dirigiert

Die Absicht verdient jedes Lob, denn die Staatsoper hat eine Reform dringend nötig

VON NIKLAUS HABLÜTZEL

Die Staatsoper Berlin hat ihre erste Spielzeit im Westen der Stadt beendet. Es ist zugleich die erste des Intendanten Jürgen Flimm und daher alles andere als ein bloßes Provisorium. Allein schon das Gebäude, das Schillertheater, ist eine Verpflichtung über das bloße Repertoire des Opernbetriebes hinaus. Ein Kleinod der Architektur, das wie kaum ein anderes Gebäude der Stadt den Geist der Nachkriegsmoderne atmet, und so ist es nur folgerichtig, dass Flimm seinen Beitrag leisten möchte zu dieser Tradition.

Unter dem etwas gewaltsam von der Medizin ausgeborgten Titel „Infektion!“ fand in den ersten beiden Juliwochen ein „Festival für Neues Musiktheater“ statt, das von nun an jede Spielzeit beschließen soll.

Die Absicht verdient jedes Lob, denn die Staatsoper hat eine Reform dringend nötig. Das Stammhaus war zuletzt nicht viel mehr als ein Konzertsaal für Daniel Barenboim und seine Staatskapelle, die ohne Zweifel Grandioses leisten, aber nicht unbedingt für die Gattung der Oper als solche. Dazu gehört ein Theater auf der Bühne, das hier kaum noch stattfand und dessen Restbestände meist nur als Störungen großer musikalischer Ereignisse wahrnehmbar waren.

Aber ein Tanker wie die Staatsoper mit all ihren repräsentativen Altlasten, die sie nicht nur im Gebäude Unter den Linden mitschleppt (dessen DDR-Barock nunmehr brav restauriert wird), lässt sich nicht so leicht umsteuern. Flimm öffnete zunächst nur die im Seitenflügel des Schillertheaters untergebrachte Werkstattbühne (auf der einst Samuel Beckett höchstselbst inszeniert hatte) für kleinere Aufweckübungen mit Komponisten wie Kagel, Henze, Peter Maxwell Davies, Salvatore Sciarrino oder Brice Pauset – und einer kleinen Demonstration seiner eigenen Fähigkeiten als Regisseur mit der Inszenierung eines kaum bekannten absurden Theaterstücks von Erik Satie, besetzt mit Schauspielern wie Jan Josef Liefers, Klaus Schreiber und Stefan Kurt. Eine unglaublich komische und geistreiche Fingerübung, die wegen ihres nachhaltigen Erfolgs in die Verlängerung gehen musste.

Der erste laut vernehmbare Paukenschlag auf der großen Bühne kam im April mit Alban Bergs „Wozzeck“ in einer neuen Inszenierung von Andrea Breth, mit Barenboim am Pult und Solisten wie Roman Trekel und Nadja Michael. Eine wahre Sternstunde der Opernkunst, gefeiert in allen Feuilletons, aber nach wenigen Vorstellungen im Rahmen der sogenannten Festtage schon wieder aus dem Spielplan verschwunden.

Nun also sollte mit der „Infektion!“ der Diskurs nachgereicht werden zu der Frage, ob solche singulären Höhepunkte nachwirken können auf den Geist des Hauses insgesamt und über die Experimente in der Werkstatt hinaus, die es so ähnlich auch an jedem besseren Stadttheater gibt. Denn der Maßstab des nachhaltigen Erfolges wäre das alltäglich gespielte Repertoire.

Platte Drastik

Der erste Schritt auf diesem Weg geriet noch ein bisschen stolperig. Acht Aufführungen standen auf dem Programm, offenbar gedacht als Beispiele für die weitere Arbeit, aber sie wiesen in derart unterschiedliche Richtungen, dass auch das auf zwei Tage verteilte Symposion ihnen keine erkennbare Tendenz zuschreiben konnte. Die Referate beschränkten sich auf oberflächliche Bestandsaufnahmen und Werkstattberichte eines Komponisten und einer Librettistin, die nicht den Ehrgeiz hatten, ihre Arbeit in einen übergreifenden Rahmen einzuordnen. Die am zweiten Tag angesetzte Diskussion versandete in einer Provokation des Regisseurs Michael von zur Mühlen, der glaubte, die sozialkritische Folgenlosigkeit des Opernbetriebes mit Fotos von der Party nach der Wozzeck-Premiere beweisen zu können.

Als Regisseur eines Abends mit zwei kurzen Melodramen für Frauenstimme („Miss Donnithorne’s Maggot“ und „Infinito nero“) war von zur Mühlen selbst in der Reihe der Festivalaufführungen vertreten. Eine Eigenproduktion der Staatsopernwerkstatt, die jedoch ein eher abschreckendes Beispiel für eine nach möglichst platter Drastik schielende Illustration persönlicher Idiosynkrasien ist, die prinzipiell jeder beliebigen Musik übergestülpt werden können. Im Fachjargon hat sich dafür der Begriff der „Performanz“ eingebürgert, mit der die als zu konservativ empfundene Interpretation von Stücken überwunden werden könne.

Ausgerechnet daran aber scheiterte schon im vergangenen Herbst die „Metanoia“ genannte Produktion, mit der Christoph Schlingensief noch einmal seine Krebserkrankung zum Gesamtkunstwerk erklären wollte. Zur Performanz kam es nicht mehr, weil Schlingensief vor Probenbeginn starb. So tragisch dieser Tod auch ist, vielleicht hat er uns ein schlimmes Theater erspart, denn was an Material übrig blieb, ist ein grauenhaftes Gemisch aus Stammtischgebrüll und Selbstmitleid, untermalt von effektvoll aufbrausender Musik ohne Inhalt. Flimm hielt es für seine Pflicht, dieses gescheiterte Fragment, das seine Amtszeit eröffnen sollte, noch einmal aufführen zu lassen, aber der Saal blieb fast leer an diesem Abend.

Immerhin stand danach fest, was nicht geht. Wie immer man den Begriff der Oper heute definieren mag – im Angebot sind sämtliche Kombinationen mit den Adjektiven „modern“, „zeitgenössisch“ und „neu“, die Opern von heute werden nicht von Regisseuren gemacht, sondern von Musikern und Musikerinnen. Mit drei Beispielen aus den letzten Jahren hat das Festival versucht zu zeigen, was damit jenseits der Avantgarde von gestern gemeint sein kann: „Phaedra“ von Hans Werner Henze (eine Wiederaufnahme der Uraufführung aus dem Jahr 2007), „Drei Schwestern“ von Peter Eötvös (eine Koproduktion mit der Bayerischen Theaterakademie) und „Matsukaze“ von Toshio Hosokawa (ein Gastspiel des Ensembles von Sasha Waltz).

Keine Experimente, allen gemeinsam ist die Rückkehr zur singbaren Melodie, die mehr sagt als Worte. Henze war dafür schon immer berühmt und gescholten, Eötvös geht noch weit darüber hinaus, seine 1998 entstandene Version des Dramas von Tschechow zitiert Tschaikowski und schenkt auch sonst seinen Personen große, in sich abgeschlossene Arien. Und Hosokawa kam bei seinem Versuch, die europäische Moderne mit dem japanischen No-Spiel zu verbinden, zu schwerelos schwebenden, melodischen Kalligrafien.

Sasha Waltz hatte dazu eine recht konventionelle Choreografie expressiver Gestik entwickelt, die der meditativ in sich ruhenden Kraft dieser Musik oft widerspricht. Trotzdem ein markanter Abschluss, wenn auch nicht der Höhepunkt des Festivals. Denn schon am ersten Tag hatte Anna Prohaska fünf Lieder für Sopran und Kammerorchester gesungen, die der 1908 geborene Elliott Carter im Jahr 2009 komponiert hatte – nur Hosokawas Stück war noch neuer. Danach hatte Patrice Chéreau Strawinskys „Geschichte vom Soldaten“ vorgelesen, vom Blatt, nicht auswendig gelernt, daher besser, als es je ein Schauspieler könnte. Man saß mitten in der Probe und musste nicht über das Theater diskutieren, es war da, leibhaftig.

So leicht wie Mozart

Am dritten Tag dann Christine Schäfer mit Schönbergs „Pierrot lunaire“, gefolgt von elf Mitgliedern der Staatskapelle mit „Dérive 2“ von Pierre Boulez: Kein Mensch versteht diese Musik beim bloßen Zuhören, aber unter Barenboims Leitung klang sie so leicht, selbstverständlich und unterhaltend wie eine Serenade von Mozart.

Was soll ein Intendant machen, wenn so etwas in seinem Theater geschieht? Gar nichts, das ist die Kunst, die sich nicht herbeireden lässt. Sie ereignet sich wie ein Wunder – oder eine Infektion. Vielleicht war ja nur das gemeint.