Die lange Nacht der tragischen Frauen

65. THEATERFESTIVAL AVIGNON Noch vor wenigen Jahren eine eher rein französische Angelegenheit, ist das Festival heute eine Art gesamteuropäisches Stadttheater, das dennoch seinen Künstlern treu bleibt

Auch die Off-Szene buhlt um Aufmerksamkeit. Gespielt wird überall, immer und manchmal auch die Nacht durch

VON JÜRGEN BERGER

Es gibt Momente, in denen das Theater die Welt dort packt, wo sie gerade sehr empfindlich ist. Dieses Jahr gelingt das Romeo Castellucci, wenn er in Avignon eine radikale Versuchsanordnung zeigt. „Sul concetto di volto nel Figlio di Dio“ kann man mit „Über das Konzept des Gesichts des Gottessohnes“ übersetzen. Wie immer, wenn der italienische Performance-Künstler mit seiner Gruppe Socìetas Raffaello Sanzio einen Theaterabend vorstellt, prallt scheinbar Unvereinbares aufeinander. Da ist dieses Bild von Antonello da Messina aus der Renaissance mit einem scheinbar so gütig blickenden Gottessohn, das heute in der Nationalgalerie von London zu sehen ist. Vor diesem, den Hintergrund der Bühne füllenden Bild spielt dann aber eine überaus aktuelle Szene.

Ein Mann will zur Arbeit, sein Vater jedoch, senil und inkontinent, lässt immer dann unter sich, wenn der Sohn meint, den Vater versorgt zu haben. Castellucci spielt das mehrere Male naturalistisch durch: Der Sohn entkleidet den Vater und reinigt ihn, während der Bühnenkot als Duftnote durch den Saal weht und dem Sohn die Duldsamkeit abhanden zu kommen droht. Da ist aber dieser barmherzig-unbarmherzige Blick des Gottessohnes, der dafür sorgt, dass am Ende Kinder die Bühne entern und das Bild mit Handgranaten traktieren. Es hilft nichts: Das Gesicht verdunkelt nur kurz, um danach umso intensiver zu leuchten.

Castellucci dominierte das Festival vor drei Jahren mit einer Trilogie nach Dantes „Göttlicher Komödie“. Dass er seine neue Produktion dieses Jahr einmal mehr hier vorstellt, zeigt unter anderem, wie das Festival sich immer wieder neu erfindet. War es Anfang der 1990er Jahre noch eine eher französische Angelegenheit, die schwerpunktmäßig reagierte und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs unter anderem das Theater Osteuropas nach Südfrankreich holte, ist es heute Teil des europäischen Festivalzirkus, gleichzeitig aber auch eine Art gesamteuropäisches Stadttheater, das seinen Künstlern treu bleibt und die ganze Bandbreite dessen zeigt, was es an Theater jenseits aller Gattungen und Sparten gibt.

Castellucci repräsentiert den italienischen Teil dieses europäischen Theaterlabors in Zeiten der Euro-Krise, das Duo Tom Lanoye und Guy Cassier den flämischen. Auch der derzeit wirkmächtigste belgische Autor und der Leiter des Antwerpener Toneelhuis kommen immer wieder nach Avignon und lieferten dieses Jahr ein Großereignis für den Papstpalast. Es ging es um das französische Nationalheiligtum Jeanne d’Arc und einen Mann, der zu den abgründigsten der französischen Geschichte gehört: Gilles de Rey, der wie Jeanne d’Arc im Hundertjährigen Krieg der Franzosen gegen die Engländer zuerst ein Held war, später aber hingerichtet wurde.

Gilles de Rey soll einer der reichsten Männer des ausgehenden Mittelalters gewesen sein, mordete nach seiner Karriere als Heerführer aber weiter und ließ auf seinen Schlössern unter anderem Knaben zu Tode foltern. Georges Bataille beschäftigte sich mit dem Prozess, den die Kirche gegen den Häretiker anstrengte. Lanoye/Cassier nun liefern mit „Blut und Rosen. Das Lied von Jeanne und Gilles“ ein politisches Tableau der Zeit, das eine von Gott Beseelte und einen sadistischen Serienmörder zuerst groß machte und dann der Inquisition überließ.

Eigentlich ist das Ganze ein Kammerspiel mit einem schwachen französischen König, der die Staatsgeschäfte mehr schlecht als recht führt. Den daraus resultierenden Widerstreit von Individuum und staatlicher Macht inszeniert Guy Cassier derart intim, dass das auf der großen Open-Air-Bühne des Papstpalastes eigentlich nicht funktionieren dürfte. Da all die kleinen Szenen aber gleichzeitig als Cinemascope-Projektion auf der grauen Wand des Papstpalastes zu sehen sind, wird aus dem Abend dann doch ein eindringliches Ereignis mit einer Abke Haring (Jeanne d’Arc), die sowohl vor der Kamera als auch im Bühnenraum eine ungeheure Präsenz entwickelt.

Nach fast drei Stunden geht es zurück in die Straßen Avignons, wo tagsüber nicht nur die großen Festivalproduktionen annonciert werden, sondern auch die Off-Szene um Aufmerksamkeit buhlt. Gespielt wird überall, immer und manchmal auch die Nacht durch. Wie das funktioniert, zeigte Wajdi Mouawad, der in den letzten Jahren mit seiner eigenen Familiengeschichte die europäischen Bühnen eroberte. Die Mouawads flohen aus dem Libanon über Frankreich nach Kanada, wo der Sohn der Familie als Autor und Regisseur Karriere machte. Inzwischen kehrt er regelmäßig nach Frankreich zurück und war wie Castellucci assoziierter künstlerischer Leiter des Festivals im Süden. Dieses Jahr nun stellte er mit „Femmes“ eine siebenstündige Umkreisung der großen Frauenfiguren des Sophokles vor.

Antigone und Elektra kennt man. Da ist aber auch die unglückliche Königin von Trachis, Deianeira, die auf die Rückkehr des Gatten Herakles wartet, der dann auch noch eine Nebenbuhlerin im Gepäck mit sich führt. Mouawad packt die großen Frauenfiguren in einen Abend und ein Bühnenbild. Gespielt wird im Steinbruch von Boulbon, in dem Peter Brook vor Jahren sein legendäres „Mahabharata“ inszenierte und Mouawad mit Sylvie Drapeau eine Deianeira ins Rennen schickt, an der seine Sophokles-Trilogie zu scheitern droht. Es ist gegen elf Uhr abends und die Schauspielerin leidet immer noch so jammernd vor sich hin, dass man meint, Wajdi Mouawad wolle die gute alte französische Schule des vibrierenden Deklamierens persiflieren. Glücklicherweise erscheint nach zwei Stunden mit Charlotte Farcet aber eine Antigone auf der Naturbühne, die in einem unglaublichen Tanz gegen König Kreon aufbegehrt, der aus Gründen der Staatsräson die Beerdigung des Bruders verbietet.

Da nimmt die lange Nacht der tragischen Frauen doch Fahrt auf und erreicht mit dem Racheengel der Antike ihren Höhepunkt. Gemeint ist Elektra, die nur eines will: den Tod der Mutter Klytaimnestra, die mit ihrem Galan Aigisth den Vater Agamemnon ermordete. Das Werk der Rache verrichtet der Bruder Orest. Gegen vier Uhr morgens ist es dann so weit und Sara Llorca immer noch eine innerlich brennende Elektra, der kein Bruder dieser Welt jemals Genugtuung wird verschaffen können. Wajdi Wouawad hat dann doch noch die Kurve gekriegt und den verschachtelten griechischen Familientragödien ganz nebenbei auch noch ein aktuelles Familiendrama mit auf den Weg gegeben. Das Ereignis des Abends ist der Soundtrack, von einem Drummer, Bassisten und Gitarristen live auf der Bühne gespielt. Zu hören sind wuchtige Rockballaden, in denen die langen Chorpassagen der Tragödien aufscheinen.

Der Sänger der Balladen allerdings heißt Bertrand Cantat. Zur Erinnerung: Das ist der ehemalige Frontmann von Noir Désir, der 2003 Marie Trintingnant während eines Streits so zurichtete, dass sie an den Folgen ihrer Verletzungen verstarb. Seine Strafe hat Cantat inzwischen verbüßt. Dass Wajdi Mouawad ihm nun eine Plattform für ein Comeback bieten wollte, sorgte nicht nur in der Familie Trintingnant für Aufregung. Also verzichtete Cantat auf den Auftritt, zu hören war er dennoch – aus dem Off und am Ende eines Festivals, das in seiner zweiten Hälfte nicht nur wegen dieser Rockstimme eines Abwesenden zu großer Form auflief.