DVD "Phantom Indien": Den Ekel nicht verstehen

In seiner sechsstündigen Dokumentation "Phantom Indien" reflektiert Regisseur Louis Malle über sein Verhältnis zum Land. Dabei entdeckt er einige Differenzen.

Louis Malle: Kamera als "Waffe". Bild: imago/EntertainmentPictures

Ein Mann, der ein Nähmaschinentischchen auf eine verlorenen Landstraße schiebt. Ein unlängst gestorbenes Rind am Rande des Wegs, an dem sich wilde Hunde und Aasgeier gütlich tun. Eine Frau am Spinnrad, die ausdrücklich nicht in die Kamera blickt. Drei von unendlich vielen Eindrücken, die Louis Malle in seiner beinahe sechsstündigen Dokumentation "Phantom Indien" festhält. Diese drei jedoch werden ihm - neben anderen - zum Anlass zur Reflexion über das Verhältnis des Dokumentarfilmers zu diesem Land.

Die Nähmaschine nimmt er als Zeichen des in Indien ins Surreale reichenden Potenzials unverbunden nebeneinander stehender Dinge, ganz wie in Lautréamonts Satz von der "zufälligen Begegnung eines Regenschirms mit einer Nähmaschine auf dem Seziertisch". An der ekelerregenden Szene mit dem Aas, die er und sein Kameramann Étienne Becker minutenlang festhalten, markiert er die Differenz zwischen sich und den Indern, die sie für überaus alltäglich halten und Faszination und Ekel des Filmemachers gar nicht begreifen. Und weil die Frau am Spinnrad die Anwesenheit der Kamera gerade dadurch anerkennt, dass sie während des Drehs nicht hineinblicken will, wird Malle diese Einstellung zum Emblem seines Films: So unauffällig Filmemacher und Kamera auch blieben, ein Moment der Inszenierung wird niemals verschwinden.

Von der Kamera als "Waffe", von den Blicken, die den Europäer als Fremden betrachten, spricht der Kommentar ganz zu Beginn. Malle hat ihn später geschrieben, aus der Distanz, zurück in Frankreich, während des Schnitts, gemeinsam mit dem Historiker Guy Bechtel, dem gewiss viele der oft klugen ethnografischen Einsichten zu verdanken sind. Von dieser Distanz ist mehrfach die Rede, sie schreibt sich bewusst und auch unbewusst ein in den Film.

Äußerst signifikant ist der Zeitpunkt von Louis Malles mehrmonatiger Reise, bei der er den Subkontinent von Norden nach Süden, von Kalkutta (daraus wird ein separater Film) bis Madras (heute Chennai) und von Madras bis Bombay (heute Mumbai) durchquerte. Es ist das Frühjahr 1968, in dem Malle in Indien unterwegs ist. Als er im Mai nach Paris zurückkehrt, gerät er in den Höhepunkt der Proteste. Das Filmmaterial bleibt zunächst für ein Jahr liegen.

Wieder und wieder sieht man in der Dokumentation auch in Indien Demonstrationen. Malle unterhält sich mit indischen Intellektuellen widerstreitender marxistischer Parteien und Fraktionen. Zu sehen ist allerdings auch der bis heute einflussreiche hindu-nationalistische Rechtsdemagoge Bal Thackeray von der damals gerade gegründeten Shiv-Sena-Partei.

Louis Malle sucht mit marxistisch informiertem Blick nach der proletarischen Klasse und findet sie nicht: Die überwältigende Armut des Landes ist eingebettet in die ganz andere Tradition des nur offiziell abgeschafften Kastensystems, das Differenzen als quasi naturgegebene stabilisiert. Die Riten und Regeln des Kastensystems und der lokal jeweils sehr unterschiedlich aufgefassten Religionen (von Hinduismus bis Christentum, von Islam bis zu Resten indigener Traditionen) beobachtet der Film mit nie nachlassender Faszination und ohne Neigung zur Simplifizierung.

In einer Reflexivität, die am Film wohl das Europäischste ist, umkreist Malle immer wieder auch das eigene Nichtverstehen aus eher nichtreligiöser europäischer Perspektive. In einem entscheidenden Moment, beim Anblick eines potenziell lächerlichen religiösen Rituals, verzichtet er ganz ausdrücklich auf den Willen zum Urteil: Ich weiß nicht mehr, heißt es da, was ich davon halte. So nahe immerhin kommt Malle, kommt als ganzer der Film der Fremde. Er schwankt, anders gesagt, zwischen eingebildeter Nähe, gesuchter Distanz, ausgesprochener Verunsicherung und dem "Othering" zum ganz Unvertrauten. Die tiefe Wahrheit über die Reise eines reflektierten Europäers in den Subkontinent liegt genau darin, dass Louis Malle den Verlust der Kontrolle über den Wechsel dieser allesamt unvermeidlichen Perspektiven zuzulassen bereit ist.

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