Das Alphabet der neuen Welt

BILDSPRACHE Mit klaren Symbolen in die Zukunft aufbrechen: Die Galerie M + R Fricke zeigt eine seltene Sammlung von Kinderbüchern aus der jungen Sowjetunion, von Künstlern der Avantgarde mit spielerischer Lust gestaltet

Kinderbuchautoren und Illustratoren waren nun die Erzieher eines wichtigen und stark angewachsenen Publikums, das dank einer Alphabetisierungskampagne zum ersten Mal überhaupt lesen konnte

VON RONALD BERG

Der dicke Mann auf dem Titelblatt des Kinderbuches über „Das Eis“ sieht lustig aus. Die Figur besteht eigentlich nur aus bunten geometrischen Flächen, die so zusammengesetzt sind, das ein Mann in blauer Jacke, grauer Hose, gesprenkelter Weste, Melone auf dem Kopf und Gamaschen an den Füßen dabei herauskommt. Sein hochroter Kopf gleicht einer Eiskugel.

Auf den nachfolgenden Seiten kommt der Dicke sogleich herbeigerannt, um am Eiskarren mächtig zuzulangen. Er stürzt gleich den ganzen Kübel mit dem Speiseeis herunter, der Hut fällt ihm dabei vom Kopf, Eis tropft ihm von der Nase. Nun, das sieht komisch aus, und die dicke runde Figur erweckt eher Heiterkeit als Protest. Aber ist der Mann nicht doch ein Müßiggänger, ein Völlerer und – vor allem – ist er nicht ein typischer Bourgeois, der in seinen Gamaschen den barfüßigen Kindern, die in dem Buch zu sehen sind, das Eis wegisst?

Lebendiges Feindbild

Auf solche Gedanken sollte man bei der Betrachtung von Wladimir Lebedjews Kinderbuch von 1929 wohl kommen. Im damaligen Russland, wo das Buch – eigentlich nur ein schmales Heftchen – erschien, hatten ja angeblich die Arbeiter und Bauern über die dekadente Bourgeoisie in einer Revolution gesiegt. Das Feindbild blieb aber immer noch lebendig.

Auch in anderen russischen Kinderbüchern aus den zwanziger Jahren kommen solche stereotypen Figuren vor, die von den Kindern leicht zu entziffern waren: der russische Bauer mit Bluse und Stiefeln, der Arbeiter in der Fabrik, der Forscher im Kittel, der Soldat in Uniform und der Künstler mit Pinsel und Palette. Die klaren Symbolfiguren in den Kinderbüchern hatten die Aufgabe, den Kindern eine neue Welt zu erklären. Diese neue Welt war eine sozialistische Gesellschaft, die auf ihre Zukunft, das heißt auf Kinder, setzen musste.

Kinderbuchautoren und Illustratoren waren nun die Erzieher eines wichtigen und stark angewachsenen Publikums. Vor der Revolution gab es eigentlich nur Kinderbücher für die Sprösslinge der Bourgeoisie. Jetzt in den zwanziger Jahren richteten sich die Kinderbücher an eine große Masse, die dank einer Alphabetisierungskampagne zum ersten Mal überhaupt lesen konnte.

Wie bedeutsam die russischen Kinderbücher waren, zeigt die Tatsache, dass viele bedeutende Künstler der Avantgarde sich in diesem Metier betätigten. El Lissitzkys „suprematistische Erzählung“ von den „2 Quadraten“ erschien 1920 und konstruiert eine Geschichte nur anhand von abstrakten geometrischen Formen. „Baut auf“ und „Weiter“ lauten die wenigen Parolen zu den Bildern. Doch die Euphorie einer neuen Zeit und die Freude über den Einsatz der neuen ästhetischen Mittel auch bei den Kinderbüchern dauerte nicht lange, auch wenn ihre Gestaltung für avantgardistische Künstler wie Lebedjew bis in die dreißiger Jahre eine Nische vor dem Diktat des sozialistischen Realismus darstellten.

In der Galerie M + R Fricke kann man jetzt eine Auswahl von 30 russischen Kinderbüchern aus der Zeit von 1925 bis 1935 entdecken, die die Originalität und die Nachklänge der Avantgarde in diesem Genre erkennen lassen. Die Bücher stammen aus den Sammlungen von Hannes Meyer, Architekt und Direktor am Bauhaus in Dessau von 1927–30, und von Jan Tschichold, dem wohl berühmtesten Vertreter der Neuen Typographie der Weimarer Republik. Beide Sammler haben offenbar die ästhetischen Neuerungen der Bücher erkannt und geschätzt. Die Galeristen-Schwestern Marion und Roswitha Fricke konnten das ursprünglich 40 Titel umfassende Konvolut schon in den achtziger Jahren erwerben. Jetzt steht es für Preise zwischen 300 und 3.000 Euro zum Verkauf.

Trotz großer Auflagen von bis zu 20.000 Exemplaren sind russische Kinderbücher heute rar. Die meisten waren nur dünne, geklammerte Hefte und auf einfachem Papier gedruckt. Dafür kosteten sie damals nur ein paar Kopeken.

Thematisch handeln diese Kinderbücher nun nicht mehr von Märchen, sondern es geht darum, zu verstehen und zu lernen: Wie arbeitete der Zimmermann, wie wird Erdöl gefördert und verarbeitet, was sind Insekten, was macht die Armee, wie funktionieren Flugzeuge oder welche Schiffe gibt es? Natürlich unterlagen die Themen der Zensur.

Kleine Freiheit

Trotzdem konnte es geschehen, dass sich ausgerechnet in diesem kunstpolitischen Erziehungsmittel subversive Gedanken einschmuggeln ließen. Denn schon für Stil und Gestaltung hatten die Künstler Freiheiten wie sonst in der UdSSR Stalins nirgendwo. Die bunten und lustigen Bilder waren den Parteifunktionären wohl nicht allzu verdächtig.

Die Aufbruchstimmung in eine vermeintlich bessere Zeit ist in diesen Büchern vielfach immer noch zu spüren. Das macht wohl ihre Faszination aus. Dass es dann ganz anders kam und viele der Künstler in den dreißiger Jahren eingeschüchtert wurden oder gar den sogenannten Säuberungen zum Opfer fielen, bedeutet für das Genre der Kinderbücher den Weg in die Bedeutungslosigkeit hinein. Unter kommunistischer Herrschaft hat es vergleichbare Bücher, die künstlerisch so bedeutsam und emotional so anrührend waren, nie wieder gegeben.

■ Galerie M + R Fricke, Invalidenstraße 114, bis 17. September, Di.–Fr. 11–18, Sa. 12–17 Uhr