Wie bastelt man sich eine Familiengeschichte?

GENERATIONEN Familie – das ist ein Erzählzusammenhang. Bei dem Schriftsteller Eugen Ruge kann man nun einiges darüber erfahren

VON DIRK KNIPPHALS

Man mag ja Bücher, die einen ein kleines Stück des eigenen Lebenswegs begleiten. Eugen Ruges Roman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ ist mir in diesem seltsam verhauenen Sommer so ein Buch gewesen, auch wenn ich gar nicht mit allem darin einverstanden bin. Ich bin mit einem Vorabexemplar dieses in der kommenden Woche erscheinenden Romans im Park unter Bäume geflüchtet, als es zu regnen begann. Ich hatte es auf einer schönen, wenn auch teilweise verregneten Kajaktour in Mecklenburg dabei. Und ich musste es ein paarmal auf dem Couchtisch liegen lassen und (wenn es mal nicht regnete) spazieren gehen, um mir darüber klarzuwerden, woher diese Unruhe stammte, die mich beim Lesen manchmal überkam.

Es ist ein spätes Debüt. Eugen Ruge wurde 1954 geboren und hat bisher fürs Radio und das Theater gearbeitet. „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ ist sein erster Roman.

Bestimmt wird es von den Kollegen im Literaturbetrieb und auch manchem Leser zunächst einmal als DDR-Roman verstanden werden – aber gerade auf dieser Ebene bleibt das Buch etwas konventionell. Eugen Ruge erzählt das Leben von vier Generationen einer ziemlich illustren Familie. Die Urgroßeltern waren während des Zweiten Weltkriegs in Mexiko im Exil und kehren ins DDR-Deutschland zurück, um den Sozialismus aufzubauen; die Großeltern lernen sich während seiner Verbannung in Sibirien wegen „antisowjetischer Propaganda“ kennen, er wird dann noch ein angesehener Historiker der DDR, sie, die Russin, bleibt in der DDR aber fremd; die Eltern mäandern zwischen Anpassung und Dissidenz hin und her und lassen sich schnell scheiden – Alexander, der Vater und in diesem multiperspektivisch erzählten und mit vielen Figuren bevölkerten Roman letztlich doch die Zentralfigur: „Ich habe ein Recht auf mein eigenes Leben, ich habe ein Recht auf Eheprobleme, ich habe ein Recht auf Schmerzen...“, und auch daran, dass er sich diese Rechte gründlich nimmt, zerbricht die DDR; und dann gibt es noch einen Enkel, der die Gegenbenheiten der späten DDR aus der Kinderperspektive wahrnimmt.

Geschildert werden einige für die DDR-Aufarbeitungsliteratur längst typische Szenen: die Schrecken während der Grundausbildung bei den DDR-Grenzschutztruppen; das Fahren in einem Trabant; die Weihnachtsfeste, die auch ohne christlichen Hintergrund begangen wurden; die komplizierten Ringtauschhandel, die man eingehen musste, um an bestimmte Nahrungsmittel zu kommen, hier: Aprikosen; ein Gang durch den verfallenden winterlichen Prenzlauer Berg der späten Siebziger, inklusive schlimmer Restaurants und noch schlimmerer Kellner.

Das Bedürfnis, Teil einer Geschichte zu sein

Jede einzelner dieser Szenen ist ganz großartig erzählt. Nur in ihrer Summe wirken sie doch leicht akkurat hingeschnitzt – so auf eine Perle aufgereiht wie die geopferten Herzen der Azteken, die in den Mexiko-Episoden eine Rolle spielen. Außerdem bleibt das nicht zur Familie gehörige Personal nur Staffage. Und mancher Satz wirkt allzu deutlich fürs Unterstreichen hingeschrieben: „Der Kommunismus, Charlotte, ist wie der Glaube der alten Azteken: Er frisst Blut.“

Das sind die Einwände. Die tollen Aspekte des Romans machen das alles aber wieder wett. Und unbedingt interessant bleibt er schon deshalb, weil er weder mit einer Nach-Wende-Ironie noch mit einem dissidentischen Furor erzählt wird, sondern gelassen, umsichtig und souverän. Das funktioniert. Man merkt beim Lesen, dass die DDR inzwischen weit weg ist, so dass es (anders als in China, wo ein Liao Yiwu durchaus gebraucht wird) eine heldische literarische Gegeninstanz, die, wie gebrochen auch immer, das Individuum gegen ein übermächtiges Ganzes verteidigt, oder heldenhaft mit dem Gewissen und dritten Wegen ringende Erzählerstimmen nicht mehr braucht. Zu Christa Wolf, der Meisterin solcher mit sich ringenden Erzählerstimmen, leistet sich Eugen Ruge eine hübsche Gehässigkeit: „Es war gerade von Christa Wolf die Rede, großartiges Buch, warf Irina ein, obwohl sie das Buch noch gar nicht zu Ende gelesen hatte, aber sie hatte so viele Diskussionen darüber gehört, dass sie schon zu vergessen begann, wie sehr sie der umständliche Stil zermürbt hatte.“

Außerdem kann Eugen Ruge das Geschehen sehr kunstvoll auf die Figurenperspektiven verteilen. Der Spaß beim Lesen besteht auch darin, dass man manche Zusammenhänge erst Schritt für Schritt begreift. Viele, viele kleine Geschichten setzen sich so zusammen. Ein Beispiel ist die von dem unpraktischen großen Tisch beim 90. Geburtstag des Urgroßvaters: Nur Alexander kann diesen Tisch, auf dem das Büffet angerichtet werden soll, richtig ausziehen, er ist aber – wir schreiben den Oktober 1989 – gerade in den Westen gegangen; also versucht es der Urgroßvater selbst, macht dabei etwas kaputt und repariert es notdürftig mit einem Nagel; eine Weile hält der Tisch, aber dann lehnt sich jemand auf ihn und er bricht zusammen. Kürzer kann man die Geschichte der DDR kaum erzählen.

Die Unruhe, die einen beim Lesen dieses Romans überkommen kann, ergibt sich, glaube ich, aber aus einer anderen Ebene: der Familiengeschichte. Familie – das ist immer auch ein Erzählzusammenhang, von tradierten Anekdoten bis hin zu sorgfältig beschwiegenen Familiengeheimnissen. Eugen Ruge ist ein großartiger Erzähler solcher Familiengeschichten. „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ ist so auch ein Roman über das Bedürfnis, Teil einer Geschichte zu sein, und zugleich ein Roman darüber, wie solche Geschichten immer schon zusammengebastelt und konstruiert sind.

Das spielt Ruge konsequent auf verschiebenen Ebenen durch. Die kommunistische „Kämpferbiografie“ des Urgroßvaters ist sowieso zu einem großen Teil erlogen. Die Geschichtserzählungen des Großvaters sind nach der Wende mit einem Mal Makulatur. Und Charlotte muss erkennen, dass sie sich die Geschichte, von der DDR gebraucht zu werden, nur eingeredet hat.

Am kompliziertesten ist das bei Alexander. Sein Leben erzählt Eugen Ruge, oft gespiegelt in den Perspektiven der anderen Familienmitglieder, zum einen als Entwicklungsgeschichte, die ihn Schritt für Schritt aus dem Familienzusammenhang entfernt. Als bei ihm aber im Jahr 2001 – der dritten Zeitebene, neben dem 90. Geburtag am 1. Oktober 1989 und den historischen Episoden, die bis ins Jahr 1952 zurückreichen – Krebs diagnostiziert wird, ordnet er sich doch noch in die Familiengeschichten ein. Er reist nach Mexiko, an den Pazifikort, an dem die Urgroßeltern in ihrem Exil einst ein Silvester verbrachten.

Eugen Ruge verwendet viel erzählerische Kunst und manchen Trick darauf, mit dieser Mexikoreise die Handlung des Romans zu runden. Unter anderem tauchen die großen Meeresschildkröten vom Anfang am Schluss wieder auf, nur dass sie 2001 nicht mehr wie 1952 grausam abgeschlachtet, sondern inzwischen gehegt und gepflegt werden – was Alexander beschloss, „jenem kleinen Teil von Erfahrungen zuzuschlagen, die, im Gegensatz zu den vielen gegenteiligen, dafür sprechen, dass sich die Menschheit allmählich bessert“. Vor allem aber gehört es zur versteckten großen Ironie dieses Romans, dass gerade Alexander, der Familienflüchtling, die Familienerzählungen am getreuesten bewahrt; auf indirekt Weise – ein Schachbrett und alte Notizen spielen dabei eine Rolle – bekommt er von seinem inzwischen dementen Vater sogar den Auftrag, das alles zu erzählen.

Es ist eine interessante Unruhe, die beim Lesen aufkommen und einen zu Spaziergängen bewegen kann. Man fühlt sich manches Mal ertappt und selbst gemeint – nicht weil man sich nun genau in diesen Familiengeschichten wiedererkennt, aber wohl in der Art und Weise, wie solche Familiengeschichten zusammengebastelt werden. Dieses Basteln findet bei Ossis und Wessis gleichermaßen statt. Und genau in dieser Hinsicht ist „In Zeiten des untergehendes Lichts“ ein Roman, der die DDR wirklich hinter sich lässt.

Eugen Ruge: „In Zeiten des abnehmenden Lichts“. Rowohlt, Reinbek 2011, 426 Seiten, 19,95 Euro