ANWOHNER GEGEN DEN BAUSENATOR, BÜRGER GEGEN BÜRGER
: Aufstand der Privilegierten

VON ULRICH GUTMAIR

NEUE WERTE

Ich trete vor die Haustür, fühle mich gut. Habe eben den Salon Beige verlassen, sehe wieder gesellschaftsfähig aus. Der Zustand ist grade rechtzeitig eingetreten. Auf der Auguststraße räumt die Polizei die letzten Autos für eine Kundgebung aus dem Weg. Geschmackvoll gekleidete Aktivisten bauen eine Bühne auf, hinter der ein Banner befestigt wird. „Rette lebenswerte Mitte“ steht drauf. Es muss ein besonders gewitzter Werber seine Hand im Spiel gehabt haben. Der Spruch ist in Versalien gedruckt, statt eines „I“ hat man in „Mitte“ ein „!“ gesetzt.

Wenn es um die Rettung des Abendlands, der Kultur, des großen Latinums oder sonst was Alteuropäisches geht, bin ich immer dabei. Und bei der Rettung von Mitte natürlich allemal. Also tue ich mich um. Ich frage einen freundlichen Mann und bekomme Auskunft. Die El-Ad Group, eine leading global real estate development company, plant im Hof des Postfuhramts einen riesigen Hotelbau. Die alten Garagen und das historische Tor in der Auguststraße sollen abgerissen werden. Unter dem Komplex ist ein Parkhaus geplant. Eine der wenigen Spielplätze in der Gegend – eben der, vor dem wir stehen – wäre dann nicht mehr. Stattdessen viel Verkehr. Es gelte, Druck auf den Bezirk zu machen. Hinter dem Tacheles sei doch genügend Platz.

Langsam füllt sich die Straße, ein bisschen. Erwachsenenpop aus eigens aufgestellten Boxen erleichtert das Warten. Ich war noch nie auf einer Demo, auf der die Leute so proper angezogen waren. Das sind wohl die Anwohner. Baustadtrat Ephraim Gothe, der Antagonist der bewegten Bürger, betritt die Bühne. Er sagt, das Gute an der Sache sei, dass die geplante Nutzung im Postfuhramt eine beruhigende Wirkung auf die Gegend ausüben werde. Das Problem sei die Oranienburger Straße. Da tummle sich „Rotlichtmilieu“, es herrsche „Remmidemmitourismus, der nachts sehr laut werden kann“. Auf der Oranienburger Straße gebe es „zu wenig Qualität“.

So habe ich das noch nie gesehen: Es gibt zu wenig Qualität auf der Oranienburger Straße! Ich würde mich sehr gern weiter mit diesem brennenden Problem beschäftigen. Aber ich muss los, meiner Tochter die gewünschten Bratkartoffeln zubereiten. (Ja sicher, es gibt auch Gurken dazu, nicht nur Ketchup.) Den Redebeitrag von Grünenkandidatin Andrea Fischer werde ich googeln, und der Aufstand der Privilegierten wird ohne meine schöne neue Frisur auskommen müssen.

Die Qualitätsfrage aber lässt mich nicht los. Hat die womöglich was damit zu tun, dass Berlin von einer Diktatur des Lumpenproletariats unterjocht wird, wie eine Zeitung aus Frankfurt eben beklagt hat ? So zumindest wurde vom zuständigen Redakteur ein Artikel von Autorin Mechthild Küpper vorgestellt, in dem ein klein bisschen was übers Lumpenproletariat, aber noch viel mehr Wahres über die braven Bürger von Berlin steht. Zum Beispiel, dass „auch noch so missbilligendes Starren“ gediegene Herren nicht davon abhalte, „die Verpackung des gerade in der S-Bahn verspeisten Gebäcks, ordentlich gefaltet, unter den Sitz zu legen“. Ihre Füße samt Schuhen legten heute selbst Bahnmitarbeiter in Uniform auf dem Sitz gegenüber ab, liest man weiter. (Das sind die Herren von der BVG. Einer von denen sagte mir vor zwanzig Jahren, früher seien Leute wie ich zu Seife gemacht worden. Ich hatte versucht, nachts mit abgelaufenem Ticket nach Hause zu fahren.)

Küpper sagt laut und deutlich, und dafür sei sie an dieser Stelle gelobt, in Berlin lasse sich nicht nur die Unterschicht gehen. Einzelne Gruppen dürften „ihre Partikularinteressen auf Kosten der Allgemeinheit“ durchsetzen. Der Verzicht auf zivile Formen zeigt in der Tat, wie die rohe Herrschaft der Partikularinteressen im Konkreten aussieht. Die Berufung auf die Allgemeinheit allerdings zielt ins Abstrakte. Man könnte auch sagen: Leere. Was das Beste für die Allgemeinheit in Sachen Postfuhramt wäre, werden wir nie erfahren. Wir können nur hoffen, dass die Vermittlung der Partikularinteressen ein halbwegs okayes Ergebnis hervorbringt. Den Vorgang nennt man Politik.

Genau das ist es auch, was den deutschen Bürger nicht tangiert. Er legt die Beine auf die Sitzbank und beschwört das Allgemeinwohl laut. „Er ist viel zu uneigennützig, um an seinen Privatvorteil zu denken“, schrieb Karl Marx über ihn. Recht hat er gehabt.