Niemand schert sich was

SÜDAFRIKA „Gezeitenwechsel“ heißt der dritte Roman des Südafrikaners Imraan Coovadia. Anhand einer Kleinfamilie zeigt er die Krankheiten, an denen sein Land leidet

Dieser Roman gibt unsentimental Auskunft über den Zustand eines Landes mit ungewisser Zukunft

VON SHIRIN SOJITRAWALLA

Südafrika vermarktet sich gern als Regenbogen-Nation. Angesichts schwindelerregender Aids- und Kriminalitätsraten kommt einem da unwillkürlich der utopiegesättigte Gassenhauer „Somewhere over the rainbow“ in den Sinn. Die Apartheid ist offiziell abgeschafft, doch alte und neue Konflikte brodeln weiter, während Touristen aus aller Welt Tiere im Krüger-Nationalpark bestaunen oder die Traumhaftigkeit der Gardenroute erkunden. Kein Wort über die extreme Schönheit des Landes verliert der südafrikanische Schriftsteller Imraan Coovadia in seinem dritten Roman „Gezeitenwechsel“.

Erbarmungslos blickt er dahin, wovor andere die Augen verschließen. Dafür muss er nicht das ganze Land in den Blick nehmen, sondern bloß eine Kleinfamilie, der er das Unglück des Landes attestiert wie eine Krankheit. Der Vater Arif ist Wissenschaftler, die Mutter Nafisa Ärztin, und der in den Vereinigten Staaten lebende Sohn Shakeer, von Beruf Fotograf, ist zu Besuch bei ihnen, in Durban, an der Ostküste Südafrikas. Die Familie ist indischstämmig, wie so viele in Durban, wo auch schon Mahatma Gandhi als junger Anwalt zeitweise lebte. Ziemlich zu Beginn des Romans geschieht ein Mord, der sich eher beiläufig aufklärt, aber die unterschiedlichen Erzählstränge gut zusammenhält.

Abwechselnd kommen Nafisa, die Mutter und ihr Sohn Shakeer zu Wort, wobei die Mutter das pochende Zentrum des Romans bildet. Als Ärztin kommt sie jeden Tag mit Aids-Infizierten in Kontakt, spricht Todesurteile und redet immer wieder auf ihre Patienten ein, sich endlich testen zu lassen. Es ist ein Kampf gegen starke Gegner, die nicht zuletzt in der Regierung sitzen und alles zu verhindern trachten, was am Lack des regenbogenglänzenden Südafrikas Kratzer hinterlassen könnte.

Coovadia unterzieht das Land einer sorgfältigen Examination; bedrückende Diagnosen legt er zumeist Nafisa in den Mund. Ihre Resignation und ihr Überdruss türmen sich zu einem elegischen „J’accuse“. Adressat ist ein Land, das nur auf dem Papier zum Wandel bereit scheint. „In diesem neuen Südafrika scherte sich niemand um irgendetwas“, lautet ein typischer Nafisa-Seufzer. Dabei kann diese bemerkenswerte Frau Veränderungen, seien sie zum Besseren oder zum Schlechteren, ohnehin nichts abgewinnen. Als Leser sieht man ihr dabei zu, wie sie verzweifelt um ihren Platz im neuen Südafrika ringt, wobei Coovadia nicht verschweigt, dass es auch ihr um die Erhaltung eines einmal erreichten Status quo geht.

Wie lange man noch so weiterleben kann wie bisher, fragt Coovadia. Die Verunsicherung des Landes und das Misstrauen seiner Bewohner bringt dieser Roman auf jeder Seite zum Schwingen; dabei umweht das Buch eine ungreifbare Unruhe, die zuweilen auch Besucher des Landes ergreift. Coovadia gelingt es, diese diffusen atmosphärischen Störungen in Worte zu fassen.

Er stellt Nafisa ihren Sohn als erzählenden Counterpart zur Seite. Shakeer gehört einer anderen Generation an, er lebt ein Leben außerhalb Südafrikas und kann sich des Blicks eines Außenstehenden bedienen. Während Nafisa etwa dem Hausmädchen Estella mit sorgender Skepsis begegnet, begibt sich Shakeer so unbefangen in ihre Gesellschaft wie auf einen Ausflug in eine andere Welt. Auch die Regenbogenhaftigkeit des südafrikanischen Seins stößt bei ihm auf bewundernden Widerhall.

Shakeer weiß es durchaus zu schätzen, zu dieser „bunt gemischten Weltbevölkerung“ zu gehören. Coovadia bereitet seinen Lesern ein Wechselbad aus Resignation und Aufbruchswillen. Dabei wartet das Buch mit feinsprühendem Witz und hölzernen Dialogen auf. Um die Geschichte in Gang zu setzen, ereignet sich besagter Mordfall, von dem man viel lieber erst bei der Lektüre als schon beim Lesen des verräterischen Klappentextes erfahren hätte. Der Mord und der dazugehörige Plot fügen sich zwar zu keinem Kriminalroman, aber zu einem Familienroman, in dessen Gemäuern sich die Dilemmata des Landes spiegeln.

Dabei wirkt „Gezeitenwechsel“ in seiner Sujetdichte zuweilen überladen und übertreibt es auch ein wenig mit seinen Anspielungen auf Lewis Carolls Alice-Bücher samt ihrer Spiegelmetapher. Und doch: Dieser Roman gibt ganz unsentimental Auskunft über den Zustand eines widersprüchlichen Landes mit ungewisser Zukunft. Auch dafür hat Coovadia den University of Johannesburg Prize und den Sunday Times Fiction Prize erhalten. In der deutschen Übersetzung hätte er allerdings ein aufmerksameres Lektorat verdient gehabt.

■ Imraan Coovadia: „Gezeitenwechsel“. Deutsch von Indra Wussow. Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2011, 283 Seiten, 24,80 Euro