Kongress zu grünem Städtebau: Schlender Studies in Montreal

Durchs Niemandsland stiefeln, Geschichten hören, Stadtplanern begegnen, Bauschilder lesen: der Kongress Ecocity und ein theatraler Stadtspaziergang in Montreal.

"Talking the walk in Griffintown" - kanadische Schauspieler führen durch potenziellen Baugrund in Montreal. Bild: Kayla Mandel

Es ist überraschend: Nur wenige Gehminuten vom Zentrum entfernt scheint die Stadt plötzlich wie ausradiert. Eben noch saß man im Palais de Congress in der kanadischen Stadt Montreal, dessen farbige Verglasung selbst bei bedecktem Himmel den Blick nach draußen grün und orange färbt.

Hier fand für fünf Tage der internationale Congress Ecocity statt, über die Chancen für einen nachhaltigen Umbau der Städte. Jetzt besucht man das künstlerische Begleitprogramm, konzipiert vom Goethe-Institut Montreal, das die Berliner Performance-Gruppe Turbo Pascal eingeladen hat.

Mehrmals muss ich zwischen leerstehenden alten Industriebauten und neuen Appartementhäusern auf die Abholung durch einen der sechs kanadischen Schauspieler warten, die sich in der Performance "Talking the walk in Griffintown" jeweils mit einem Zuschauer auf den Weg machen. Ich werde in Hauseingänge bugsiert und unter Autobahnbrücken geschoben, bekomme Pistolen zugesteckt und Schmiergelder. "Stell dir vor, du bist der Bürgermeister und ich möchte, dass die alte Regel, nicht höher als drei Stockwerke zu bauen, hier nicht mehr gilt", lautet dazu meine Anweisung.

Mit einer jungen Frau klettere ich über Halden aus Schiefer am Ende eines großen Parkplatzes, stehe unvermutet am belebten Kanal Lachine zwischen Joggern und kurz danach mit einem anderen Schauspieler in einer neuen Rolle vor Baugruben in einem Niemandsland. Die Gegend selbst ist schon surreal, ihr Name Griffintown auf keinem Stadtplan zu finden. Kärglich sind die Reste der Vergangenheit, viel vom alten irischen Arbeiterviertel aus der Zeit der Industrialisierung der Stadt hat der Investor Devimco, der hier bauen will und den Grund gekauft hat, schon abgerissen, dann ging ihm mit der Finanzkrise das Geld aus.

Fantastisch wirkt nun die Zukunft, die er auf monumentalen Werbetafeln ausmalt. Die kurzen und intimen Episoden, in die ein Schauspieler nach dem andern mich (und andere nach mir im 10-Minuten-Takt) in die sonst beinahe menschenleeren Straßen hineinführt (in französischer oder englischer Sprache), drehen das alles noch ein bisschen weiter. Man wird manipuliert, klar, aber wird man das nicht immer?

Wenn in einer Straße ein einziges der sonst Wand an Wand gebauten Wohnhäuser stehen geblieben ist, wie ein Zahnstummel, dann könnte der Grund dafür doch wirklich sein - wie ein Schauspieler verschwörerisch mitteilt -, dass jemand die Fassade dieses einen Hauses gerne als Kulissenstück haben möchte. Schließlich schmückt in einer der reichsten Straßen von Montreal, zwischen den alten Hochhäusern der Banken und neuen Hotels ein solcher Fassadenrest den Eingang zu einem noblen Gartenrestaurant. Ein wenig Ruinenromantik würzt den Sommerabend.

Entschleunigung der Stadt

"Talking the walk in Griffintown" bot eine Menge Überschneidungen mit den Themen von Ecocity: Hier wie dort ging es um die Aneignung der Stadt zu Fuß, um Entschleunigung und die Veränderung der Wahrnehmung. Für die Stadtplaner, die sich etwa aus Berlin und Montreal über die Strategien austauschten, autofreie Straßen und Plätze nicht von oben zu verordnen, sondern in kleinen Schritten zu vermitteln, stand der Gewinn an lebensfreundlicher Qualität in fußgängerfreundlichen Städten außer Frage. Nicht nur, weil dann weniger Auto gefahren wird, sondern auch, weil die Identifikation mit der Stadt damit wächst.

Die Theatermacher Eva Plischke, Veit Merkle und Frank Oberhäußer, die zusammen Turbo Pascal bilden, luden auch schon in Berlin und Zürich zu Schlender Studies ein. Das Reden und Zuhören im Gehen durch unbekanntes Territorium ist dabei immer auch gewollte Überforderung des Zuschauers. Text und Bild, Imagination und Wahrnehmung lassen sich in ihren Collagen aus Recherchiertem und Imaginärem nie ganz zur Deckung bringen, aber gerade das potenziert den Zweifel und das Staunen. Man traut auch Bekanntem und scheinbar Normalem bald nicht mehr.

Ein zweiter Punkt der Überschneidung war die Projektion von Zukunftsbildern. Die Verringerung von Treibhausgasen, die Reduktion der Entfernungen für Waren und für Menschen, die Verdichtung von Städten, um den Land verschlingenden und Energie wegschlürfenden Siedlungsbrei zu binden - ein Informationsblatt nach dem anderen hatten dazu die Referenten aus Europa und Nordamerika vorbereitet, Absichtserklärungen von Stadtverwaltungen, Forderungen von Aktivisten, Daten aus politischen Agenden. Dass die bis 2020 oder 2030 gesetzten Ziele nicht zu Makulatur werden, dafür die Hebel zu finden, darum ging es auf der Plattform Ecocity.

Elitäre Zukunft gegen grüne Visionen

Die Zukunftsvisionen, die Turbo-Pascal auf den Schaubildern der Investorengesellschaft Devimco im Gebiet ihres Rundgangs vorgefunden hatte, arbeiteten oft mit ganz ähnlichen Zeichen, mit grünen Fassaden und Dachgärten über den 23 Etagen, und mit einer Nutzungsmischung, die es den Bewohnern ermöglicht, alles an diesem Ort vorzufinden und sich gar nicht weiter mit der übrigen Stadt austauschen zu müssen. Doch was in der Sprache der Planer von Ecocity positiv besetzt ist und auf eine möglichst großen Teilhabe aller sozialen Milieus und aller Generationen am urbanen Leben zielt, verkehrte sich in "Talking the walk in Griffintown" in das Gespenst einer elitären und ausschließenden Welt, durch die allein der Wohlhabende sicher schlendert. Die Angst vor Gentrifizierung geht um, auch in Montreal.

Das dritte Element, das "Talking the walk of Griffintown" einerseits mit Ecocity verband, andererseits aber auch in ein Antidot verwandelte, war die Rolle, die die Stadtverwaltung und der Bürgermeister von Montreal, Gérald Tremblay, spielten. Bei Ecocity konnte Montreal glänzen mit der jüngsten Entwicklung zu einer radfahrer- und fußgängerfreundlichen Stadt. Das Stück dagegen basierte auch auf den Vorwürfen der Korruption gegenüber der Stadt, die ohne öffentliche Diskussion Gesetzesänderungen zu Gunsten von Investoren vornimmt.

Das konnte man auch während der Tage der Konferenz in den Tageszeitungen von Montreal weiter verfolgen: Donnerstags galt Seite 3 der Gazette der Performance, freitags konnte man lesen, wie sich der Investor Devimco aus der ursprünglichen Verpflichtung stiehlt, 15 Prozent der Wohnungen für sozial Benachteiligte zu bauen, und wie die Stadt sich darauf einlässt.

Dass die Diskussion weitergeht, freut Mechthild Manus, Leiterin des Goethe-Instituts in Montreal seit sieben Jahren. Sie hat in dieser Zeit erlebt, wie Fahrradspuren entstanden, Trottoirs erweitert wurden, Straßen für Autos gesperrt und im alten Hafen das Ufer des Sankt-Lorenz-Stroms zur beliebten Promenade wurde - aber auch, wie Probleme wie die Gentrifizierung unter den Teppich gekehrt werden. An die Sensibilisierung für diese Themen knüpfte sie oft mit eigenen Projekten an.

Die Transitkitchen von Folke Köbberling und Martin Kaltwasser war das zweite Kunstprojekt, das auf ihre Einladung Ecocity begleitete, diesmal im großzügigen Foyer des Palais des Congres. Neben den Teppichen und Ledersesseln der luxuriösen Ausstattung dort wirkten die roh gezimmerten Holzbänke dieser Show besonders karg. Jeden Tag um 12 Uhr tauchten in der Transitkitchen neue und alte Aktivisten der Umweltbewegung auf, um ein Rezept abzugeben für die Verminderung von Verkehr und Treibhausgasen.

Dort erzählte auch Jacques Desjardins von der ersten Fahrradbewegung in Montreal Mitte der siebziger Jahre, in der anglophone Anarchisten und frankophone Nationalisten das erste Mal für ein gemeinsames Ziel kämpften. Der alte Kempe illustrierte seine Geschichte mit Playmobil-Figuren und alten Flugblättern. Selbst bei seiner Hochzeit setzte er sich mit seiner Braut aufs Fahrrad, um gegen die Umweltverschmutzung zu demonstrieren.

Lebensqualität, die schon die Kinder zu spüren bekommen

Ecocity fand zum 9. Mal statt, die nächste Konferenz soll 2013 in Nantes, in Frankreich sein, wenn Nantes auch den Titel der Grünen Hauptstadt Europas trägt. Zu einem Panel waren die Bürgermeister aus Nantes und Münster eingeladen, die Grünplanung ihrer Städte vorzustellen - von Münster, der Fahrradfahrerstadt, hatten die meisten der internationalen Kongressteilnehmer noch nie etwas gehört. Besonders eine Dozentin aus Montreal, die mit ihren Studenten der Verkehrsplanung bisher regelmäßig Exkursionen nach Freiburg unternommen hat, spitzte die Ohren.

Und einen Extra-Applaus bekam Marcus Lewe, Bürgermeister aus Münster, als er die baumbestandenen grünen Lungen, die wie breite Tortenstücke in die Stadt eingreifen, vorstellte, weil die seit Jahrzehnten schon vor Bebauung geschützt sind. Lewe belegte eindrücklich, wie eine Lebensqualität, die schon die Kinder zu spüren bekommen, junge Familien anzieht und die Stadt schließlich auch zu einem attraktiven Standort für Unternehmen in neuen Umwelttechniken machte. Deutschland kam überhaupt gut weg in Ecocity, schon ob der staatlichen Entscheidung, nach den Unfällen in den japanischen Atomkraftwerken von Fukushima die Atomkraft abzuschalten.

Auf solche Beschlüsse des Staates setzt in Nordamerika niemand Hoffnung, im Vordergrund standen deshalb Organisationen wie ein Bund aus über 100 nordamerikanischen Städten, die, auch wenn das Kyoto-Protokoll nicht von den USA unterzeichnet wurde, sich trotzdem an dessen Zielen orientieren. Wo die Staaten versagen, müssen die Städte handeln, das war schon Konsens unter den Gründern von Ecocity.

Zu ihnen gehört der Kopenhagener Architekt Jan Gehl, berühmt auch dafür, es geschafft zu haben, den Times Square in New York in eine Fußgängergegend verwandelt zu haben. "Make it smaller", mahnte er in seiner Schlussrede an und kritisierte, wie oft Stadtplanung den menschlichen Maßstab verloren habe. Frage man sich hingegen immer, ob dies auch eine angenehme Umwelt für Kinder und für das Älterwerden sei, sei man auch auf dem richtigen Weg zur grünen Stadt.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.