Leben in Membranen

KUNST Sci-Fi-Kitsch? Retrodesign? Oder konkrete Utopie? Tomás Saraceno entwirft begehbare soziale Wolken in Berlin

Saraceno fasziniert die Ballonfahrt. Er bewundert aber auch Spinnen für ihre effizienten Netze

VON MARCUS WOELLER

Die Utopien der 1960er Jahre sind für Utopisten von heute von scheinbar ungebrochener Strahlkraft. Vor drei Jahren versammelte „Megastructures Reloaded“ die visionären Städtebauideen der nicht nur architektonisch swingenden Sixties auf dem Gelände der ehemaligen Berliner Münze. Ikonen des etwas größer gedachten Maßstabs wie die Gruppe Archigram, der Bildhauer Constant oder der Architekt Yona Friedman trafen dort auf zeitgenössische Künstler, die sich mit Megastrukturen auseinandersetzten. Dabei war auch Tomás Saraceno. Der Argentinier mit Wohnsitz Frankfurt am Main installierte eine schwerelose Skulptur aus durchsichtigen Kunststoffballons, von wassergefüllten Blasen in der Schwebe gehalten. Auch die Schnüre, mit denen sie an den Wänden vertäut war, schienen das zellulare Gebilde eher aufzuhalten als zu halten.

Leichter als Luft war schon 1783 das Credo der Brüder Montgolfier. Mit dem Prinzip, ein Gas von geringerer Dichte als der Atmosphäre in eine dünne Haut einzusperren, erhoben sie sich vom Erdboden, um sich einst mit dem Wind davontragen zu lassen. Saraceno faszinieren die Ballonfahrt und die gasgefüllten Sphären. Er bewundert aber auch Spinnen für die Fähigkeit, überaus effiziente und dabei ästhetische Netze zu weben, die haltbar sind und flexibel, Tautropfen einfangen wie ein Sternbild die Himmelskörper, aber auch so nachhaltig, dass die Spinne sie zur Rückgewinnung der beim Bau verausgabten Energie einfach wieder verspeist.

Wie ein von Spinnen angelegter dreidimensionaler Parcours durch ein Sonnensystem futuristischer Architekturmodelle wirkt nun auch Saracenos erste Soloshow in Deutschland, der nach dem Auftakt in Berlin eine zweite Ausstellung in der Kunstsammlung NRW folgt. Während die große Halle des Hamburger Bahnhofs nach Carsten Höllers Rentiergehege nun erneut in ein Labor naturwissenschaftlich-künstlerischer Feldforschung verwandelt wurde, will Saraceno im Düsseldorfer K21 dem Himmel näher kommen und eine begehbare Plattform über das Museum spannen. Auch zwei der Berliner Sphären lassen sich zum Test betreten. In den „Cloud Cities“, die sich Saraceno sowohl erträumt als auch Stück für Stück schon materiell patentieren lässt, wird die Fortbewegung ungewohnt sein: auf allen Vieren, irgendwo zwischen Schwerelosigkeit und Gravitation, über transparente Folien balancierend wie Barbarella im Raumschiff Alpha 7.

Saraceno ist ein Träumer – mit der Zuversicht des Wissenschaftlers und der Unbeirrbarkeit des Künstlers. Er hält mehrere Patente auf Entwicklungen wie „Irisierende Membranen “ oder „Thermalhüllen für Lighter-than-Air-Fahrzeuge“. Mit der NASA forscht er an Aerogelen, hochporösen Festkörpern, die bis zu 99,98 Prozent aus Luft bestehen und damit dem kühnen Traum, von sich aus zu fliegen, schon sehr nahe kommen. Wolkenstädte hält er für weit mehr als die „realisierbare Utopie“, von der Yona Friedman sprach. Utopie und Realität sind bei ihm zwar noch nicht deckungsgleich, aber mit der Lektüre von Peter Sloterdijks Philosophie vom sozialen Zusammenleben in Blasen und Sphären aller Art, den Netzwerk-Klassikern von Deleuze/Guattari und befeuert von Paul Virilios Geschwindigkeitstheorien, entwirft er ein Projekt, das die Megastrukturalisten der Sechziger in Sachen Gigantomanie weit hinter sich lässt. Saraceno denkt mindestens global, wenn nicht sogar interstellar.

Fantasterei? Sci-Fi-Kitsch? Retrodesign auf höchstem Niveau? Oder Kunst, die wirklich State of the Art ist, weil sie alle disziplinären Schranken von sich weist? Das Experiment, alles gleichzeitig sein zu wollen, Kunst und Wissenschaft, Theorie und Praxis? Saraceno versucht sein Gewebe aus Architektur und Arachnologie, Urbanismus und Universalismus weiter zu spinnen und alle Einflüsse zu einem großen Ganzen zu verknoten, das multiperspektivisch in die Zukunft weist. Die Realität im Detail wird diesem Anspruch nicht immer gerecht, etwa wenn Tillandsien seine Sphären bewuchern wie Zimmergärten aus dem Baumarkt oder Ausstellungsgäste durch die Installationen krabbeln wie auf einem Abenteuerspielplatz. Das Werk läuft Gefahr nur ein Konzept zu illustrieren, das in Fantasie und Theorie aufregender erscheint als in seiner Umsetzung. Saracenos Arbeiten sind da am stärksten, wo sie Wunsch und Vorstellung bleiben oder so abstrakt, wie etwa der elastische Strippenwirrwarr seiner Raumintervention auf der Biennale von Venedig 2009, die durch den Eingriff der Besucher nicht banalisiert, sondern eben erst verstehbar wird.

Mit dem Kontinuum seiner Zeichnungen, Fotografien und Performances, die das Begleitbuch zu „Cloud Cities“ dokumentiert, wird deutlich, dass die Ausstellung ein Modellversuch ist. Saracenos Versprechen, auf Aerogelluftkissen durch das soziale Netz frei im Raum flottierender Städte zu hovern, kann nur einlösen, wer auch das Wolkenkuckucksheim nicht für utopisch hält.

■ Tomás Saraceno: „Cloud Cities“, Hamburger Bahnhof, Berlin, bis 15. Januar 2012. Katalog Distanz Verlag, 29 Euro