Chancen einer Katastrophe

KÜNSTLERPROTESTE Seit Juni halten Kulturschaffende das römische Teatro Valle besetzt, um gegen Sparmaßnahmen zu protestieren

Auf der Straße vor dem Theater diskutieren Studenten mit Schauspielerinnen

VON TOM MUSTROPH

Die einen beschimpfen sie als „eine anthropologische Katastrophe“, andere schätzen sie als Retter, und sie selbst glauben, dass sie gerade die Zukunft des Theaters entwickeln. Seit dem 14. Juni halten mehrere Dutzend „Arbeiterinnen und Arbeiter der darstellenden Künste“ das Teatro Valle in Rom besetzt. Jeden Abend öffnen sie den knapp 300 Jahre alten Barockbau für Vorstellungen. Tagsüber machen sie sich mit Theaterworkshops, Vorlesungen von Juristen und Philosophen sowie Vollversammlungen fit für ihre große Schlacht: dieses spezielle Theater als ein Gemeingut für die Bürger zu retten, es deshalb der auf Pöstchenverteilung konditionierten Kulturbürokratie zu entziehen und es trotz Schuldenkrise am Laufen zu halten.

Eines haben die Besetzer bereits erreicht: Ihr Theater wird angenommen. Als an einem späten Septemberabend nach einer Präsentation der am Vormittag erarbeiteten Workshopergebnisse die Bandabarbò die Bühne erklimmt und mit ihrem Folk Punk Rosa Luxemburg und die Revolution besingt, ist der Zuschauerraum bis in den fünften Rang hinauf voll. Auch tagsüber ist die Straße vor dem Theater belebt. Studenten sind in hitzige Gespräche mit Schauspielerinnen verstrickt. Ältere Männer mit zerknautschten Hemden und rissigen Händen debattieren an den Tischen der Straßencafés mit Gepiercten. Vertreter der digitalen Boheme blicken von ihren Monitoren auf und mischen sich in die Gespräche über Kulturfinanzierung, Schriften von Giorgio Agamben und die Organisation der nächsten Vollversammlung ein.

„Es ist gut, dass die Besetzer da sind und das Theater offen gehalten haben“, brummt Antonio. Seit 25 Jahren arbeitet der kleine rundliche Mann als Hausmeister im Teatro Valle. Er ist froh, dass an ihn noch nicht die Anweisung erging, sich auf einem der vielen Korridore in der römischen Stadtverwaltung einzufinden, wie es bereits den meisten Mitarbeitern des am 13. Juni geschlossenen Theaters erging. „Wir Theaterleute sind nicht fürs Büro gemacht“, sagt er und erklärt, dass er jeden Tag, auch in der Sommerpause, an „sein“ Theater ging. „Ich musste doch gucken, ob die jungen Leute hier alles richtig machen“, meint er – und lobt die Besetzer als „gewissenhaft und professionell“. Sie kämen ja auch alle aus dem Theater, ergänzt er.

Und tatsächlich ist es eine Crew von 70 bis 80 Schauspielern, Regisseuren und Technikern, die den Betrieb des Theaters organisiert und parallel über eine Strukturreform nachdenkt. „Wir wollen, dass es ein Nationaltheater wird. Wir entwickeln ein Konzept für eine unabhängige Stiftung. Wenn es uns gelingt, den Boden für eine solche Struktur zu bereiten, dann gehen wir sofort. Wir haben das Theater nicht besetzt, um es selbst zu übernehmen, um Karriere zu machen. Wir haben – zum Glück – unsere Arbeit. Aber zum ersten Mal in meiner Schauspielerkarriere bin ich an etwas beteiligt, das größer ist als ich. Und bei aller Anstrengung beschert uns das eine Kraft, die ebenfalls über das hinausgeht, was ich bisher kannte“, erklärt der Schauspieler David Sebasti, der die Zeit zwischen seinen Auftritten in einem Antimafiaspektakel zur Mitarbeit im besetzten Theater nutzt.

Ob ihnen das Projekt Nationaltheater gelingt, ist ungewiss. Hausmeister Antonio wiegt bedenklich den Kopf. „Im Sommer haben sie die Leute machen lassen. Aber jetzt, nachdem die Urlaubszeit vorbei ist und in den Ministerien alle in die Büros zurückgekehrt sind, wird ein schärferer Wind wehen“, prognostiziert er.

Einen Eindruck von diesem Gegenwind bekamen die Besetzer bereits zu spüren. Als die Filmfestspiele Venedig die Aktivisten an die Lagune einluden, wollte Unterstaatssekretär Francesco Giro in diese autonome Entscheidung des Festivals eingreifen. Er diffamierte die Besetzer als eine „anthropologische Katastrophe“. Die jedoch, an derartige Ausfälle römischer Funktionsträger gewohnt und philosophisch gerüstet, wendeten die Beleidigung in ein Lob. „In einem offenen Brief wiesen wir den Staatssekretär darauf hin, dass die Katastrophe einen Zustand beschreibt, in dem die Krise so groß ist, dass sie in ihrem Schoße das Neue gebiert und sich rekonfiguriert. Das passt auf unsere Situation“, erzählt die Schauspielerin Sylvia de Fanti. „Unser Vorschlag von Rekonfiguration ist Selbstorganisation“, sagt sie und verweist auf das muntere Treiben in und vor dem Theater.