Beschreibungen sind ihr ein Graus

SHORT SHORT STORYS Die US-Autorin Lydia Davis ist die Meisterin der verknappten Short Story, wie ihre neue Geschichtensammlung „Formen der Verstörung“ nahelegt

In Lydia Davis’ Kurzgeschichten funktioniert Sprache als Mittler von Inhalten

VON LENNART LABERENZ

Lydia Davis ist in den USA bekannt für zweierlei: die preisgekrönte Übersetzung wortgewaltiger Autoren wie Proust und Flaubert sowie das Verfassen von Kurzgeschichten, die manchmal nur zwei Zeilen lang sind. Es handelt sich also um zwei recht gegensätzliche Formen, oder doch an sehr verschiedenen Enden der Literatur angesiedelte Extreme.

Im frei überblickten Durchschnitt halten sich Lydia Davis’ Prosastücke bei zweieinhalb Druckseiten, James Wood vom New Yorker nennt sie gerne auch „short short stories“. Wie isolierte Gedankensplitter, rasch notierte Eindrücke, kleine Schnitzarbeiten oder John Cages einzelne Noten in breiter Stille: Manchmal lassen sich Davis’ Kurzgeschichten noch mit den Notizen in Georg Friedrich Wilhelm Lichtenbergs Sudelbüchern vergleichen. Vielleicht ist dessen Diktum, nachdem es keine Kunst sei, „etwas kurz zu sagen, wenn man was zu sagen hat“, die Leitplanke von Lydia Davis’ literarischer Anstrengung.

Allerdings liegen Lichtenbergs Aphorismen stets irgendwo zwischen Humor, Literatur und Philosophie – und gerade diese Felder meidet Davis. Nichts an ihrer Prosa will ins Sentenzhafte, im Gegenteil: Die Schwelle zum Großen und Ganzen bleibt sorgsam unberührt, nichts von Lichtenbergs Drang zum Paradoxen, zum Mehrdeutigen und zur ironischen Wortspielerei findet sich hier wieder. Auch in ihrem neuen Band „Formen der Verstörung“, der in den USA bereits 2007 erschien und als Teil der hymnisch gepriesenen „Collected Stories of Lydia Davis“ 2009 herauskam, bleibt sie ihrem Stil treu. Sie blickt nach innen, notiert unter der Überschrift „Idee für einen kurzen Dokumentarfilm“: „Vertreter verschiedener Nahrungsmittelfirmen versuchen ihre eigenen Verpackungen zu öffnen.“ Und fertig. Wenn man genau hinschaut, kann man Lydia Davis’ konsequenten Geiz vor allem bezüglich der Adjektive bemerken.

Beschreibungen sind ihr offensichtlich ein Graus, die Geschichten haben nur einen minimalen erzählerischen Rahmen, oft genug muss diesen einzig die Überschrift leisten, die dann zum Beispiel „Mrs. D. und ihre Hausmädchen“ heißt. Personen treten darin nur durch ihre Handlungen auf. Und genau genommen werden diese Handlungen auch nicht erzählt, sondern eher im Protokollstil präsentiert oder als Innenansicht der Handelnden erlebt: In der Kurzgeschichte um Mrs. D. folgt nach der Kapitelüberschrift „Es folgt ein ungutes Ereignis“ einzig: „Endlich bin ich Anna, diesen Griesgram los.“ Und schon geht es weiter.

Wechselnde Perspektiven

Diese Innenansichten und wechselnden Perspektiven weisen dabei nicht auf die Aussparungen hin, das „ungute Ereignis“ tritt völlig in den Hintergrund und ist sofort uninteressant. Was wirkt, ist die karge Sprache, mit der wir in die vom Absurden umspülte Welt, in der es die „Südstaaten-Herzlichkeit und Flexibilität des Negerdienstmädchens“ gibt und in der Mrs. D. schwer darum kämpft, endlich eine passende Haushälterin zu finden, gezogen werden. Diesen Kampf wie auch die literarischen Ambitionen von Mrs. D., ihre „vielen anderen kreativen Projekte“ stehen um ein Vieles nackter vor uns, als sie dies mit genauen Beschreibungen täten. Dafür aber muss man sehr genau lesen, sich Zeit nehmen und gelegentlich die einzelnen Schritte noch einmal zurückgehen und von neuem beginnen.

Dabei kann einem auffallen: Mrs. D.s Duktus, ihr Umgang mit den Hausmädchen und das krampfartige Festhalten an ihrem sozialen Status – das etwa in den verschieden redigierten Anzeigen, die sie auf der Suche nach dem Hausmädchen aufgibt, hervortritt – weist lange darauf hin, dass die Geschichte in den 1940er Jahren spielt, bevor wir von der Rationierung des Benzins „wegen des Krieges“ hören. Wer möchte, kann nach Spuren im Archiv suchen: Time Magazine diskutierte im Sommer 1943 das Verbot für Vergnügungsfahrten und Mrs. D. ging langsam dazu über, die Idee eines Hausmädchens gegen die einer Putzfrau einzutauschen.

Die Abkürzung des Nachnamens beherbergt auch nicht zufällig die Möglichkeit, Lydia Davis schreibe über sich selbst: Viele Geschichten blicken auf die Welt durch die Ich-Perspektive. Gelegentlich verfasst dieser Ich-Erzähler auch eine Art Katalog der Ratschläge darüber, „Was man alles durch das Baby erfährt“. Die Liste scheint niedergeschrieben, während die Autorin selbst mit dem störrischen Rhythmus des Kleinkindes kämpft. In einem Interview erzählt Lydia Davis, dass sie daran zu knacken hatte, ihr Kind zu umsorgen und zu arbeiten.

Vielleicht ist es die Knappheit, das Unmittelbare der Sprache oder der Umstand, dass sie auch mal den Eins-zu-null-Stil des Nachrichtenteils einer Provinzzeitung kopiert: Wer Lydia Davis liest, geht mit ihr eine Weile durch den Alltag, projiziert ihre karge Beobachtung auf die nervigen Prenzlauer-Berg-Mütter mit den ausufernden Babywagen und der noch ausufernderen Selbstbeschäftigung. Der wilde Präsentierzwang später Jugendlicher mit peinlichen Plastikbrillen wird plötzlich gefiltert durch die Nüchternheit: Tröpfchenweise wird der eigene Blick auf die bittere Absurdität des Alltags von den Formen der Verstörung geformt. Lydia Davis ist ansteckend.

Fehlende Kleinigkeiten

Allerdings ergibt sich daraus auch eine der größten Schwierigkeiten: Nicht, dass die Übersetzung des Bandes schlecht wäre, sie ist aber auch nicht besonders gut. Wer die englische Fassung parallel liest, kann darin viele Kleinigkeiten entdecken, die in der deutschen Fassung zum Teil verloren gegangen sind, manchmal überzeichnet werden und zum Teil wohl auch verloren gehen müssen: In „Kafka kocht ein Abendessen“ erleben wir die Verzweiflung über das anstehende Abendessen an jenem Tag, „an dem meine liebe Milena kommt“: „Now and then I summon all my energy and work at the menu as if I were being forced to hammer a nail into a stone, as if I were both the one hammering and also the nail.“ In der deutschen Übersetzung macht Klaus Hoffer daraus das eher matte: „Dann und wann nehme ich meine ganze Kraft zusammen und arbeite an dem Menü, so als wäre ich beauftragt, einen Nagel in einen Stein zu hämmern, Arbeiter und Nagel zugleich.“

Neben Zwang scheint durchaus die Wiederholung der Worte und die exakte Balance der Steigerung zu fehlen. Das eher poetische „Arbeiter und Nagel zugleich“ ist eine schwierige Entscheidung, geht es doch vielleicht auch um eine Art unmögliche Substantivierung: Schließlich ist der Koch derart verzweifelt, dass er meint, er sei nicht nur gezwungen, einen Nagel in einen Stein zu hämmern, sondern er fühlt sich auch noch wie das Hämmern und der Nagel zugleich! Und warum uns der Übersetzer direkt im nächsten Satz einen Artikel vorenthält, wo Davis ihn setzt und aus ihrem „ich“ ein unpersönliches „man“ macht, lässt sich kaum erklären.

Diese und etliche andere Petitessen fallen gerade ins Gewicht, wo Geschichten aus derart wenigen Worten gemeißelt werden, wie bei Lydia Davis. Bei ihr funktioniert die Sprache im hohen Maße schon in der Form als Mittler von Inhalten. Daher sollte man es ruhig dabei belassen, dass sich Mrs. D. und Hausmädchen Cora einander „Briefe“ schreiben und diese nicht einfach unter den Übersetzertisch fallen lassen. Denn wer schreibt heute noch Briefe. Wenn Lydia Davis über den inflationären Gebrauch des Begriffs enlightened in pseudointellektuell verbrämtem Klatsch in den USA schmunzelt, steht der Übersetzer vor der schwierigen Wahl – ist es „aufgeklärt“ oder, wie Klaus Hoffer wählt, „durchgeistigt“? Letzteres klingt auf jeden Fall gestelzter.

Allerdings ist die Übersetzung gerade deshalb auch eine schwierige Aufgabe – während Davis viele kulturelle Aspekte konnotiert, müssen sie im Deutschen bezeichnet und oft genug erklärt werden. Viele der feinen kulturellen Zwischentöne, die Davis gerne und häufig verwendet, gehen so verloren. Ganze Geschichten sind darauf aufgebaut – wie anders, denn als Illustration für den seltsamen Drang, noch die absurdesten Alltagsdinge irgendwie zu messen und in einen Wettbewerb zu überführen, soll man den „Geschmacks-Contest“ verstehen, bei dem das Einrichtungsgeschick von „Ehemann und Ehefrau“ von einer Jury bewertet wird? Und auch wenn hier die Übersetzung fehlerfrei ist, bleibt sie im Ton seltsam fad – es fehlt die tägliche Hysterie des Wettbewerbs, die jede Logik sprengenden Fernsehshows, dieser Grundpegel an absurdem Rauschen, der so etwas wie die Tea Party verständlich macht und in dessen Kontrast die kühle Ironie des „Geschmacks-Contests“ hervortritt.

Diese Feinheiten machten Lydia Davis seit ihrem ersten Erzählband „Break It Down“ von 1986 zu einem Fixstern der US-amerikanischen Kurzprosa – einer Erzählform, die sich nur scheinbar schnell liest, dafür aber langsam den Blick auf die Welt verändert. Eine seltsame Welt, über die Lichtenberg sagte, dass in ihr „drei Pointen und eine Lüge einen Schriftsteller“ machen. Lydia Davis betrachtet sie mit beiläufiger Eleganz.

Lydia Davis: „Formen der Verstörung“. Aus dem Amerikanischen von Klaus Hoffer. Droschl-Verlag, Graz, 2011 240 Seiten, 22 Euro