Regisseurin Chantal Akerman: "Ich war ein altes Kind und bin es noch"

In Wien läuft eine Werkschau der großen Regisseurin Chantal Akerman. Ein Gespräch über Motive ihres Lebens, Essen, die Bibel und Psychoanalyse.

Eigensinnig: Chantal Akerman im September bei der Präsentation ihres jüngsten Films in Venedig. Bild: reuters

taz: Frau Akerman, das allererste Bild in Ihrem neuen Film "La folie Almayer" zeigt eine Wasseroberfläche in der Nacht, dazu erklingt Musik - Richard Wagners "Tristan und Isolde".

Chantal Akerman: Ja, während die Credits laufen, das Prélude zu "Tristan und Isolde". Ich weiß, in Lars von Triers "Melancholia" wird es auch verwendet. Als ich den Film sah, habe ich zu mir gesagt: "Scheiße, der Kerl benutzt dieselbe Musik!". Aber ich benutze sie anders.

Wie denn?

Das hängt jeweils von den Bildern ab - es kann weich und sanft sein oder dramatisch, es kann vielen unterschiedlichen Gefühlen Ausdruck verschaffen. In "La captive" habe ich ausgiebig Rachmaninows "Die Toteninsel" verwendet, und jedes Mal, wenn man einen Ausschnitt hörte, hatte das eine andere Wirkung. Vielleicht ist "Die Toteninsel" weniger bekannt als "Tristan", das weiß ich nicht genau, denn ich bin kein besonders bildungsbürgerlicher Mensch, ich bin mit 15 von der Schule abgegangen. Klassische Musik war für mich etwas, was anderen gehörte, bis ich mit jemandem zusammenlebte, der Cello spielte, und nach und nach entdeckte, dass ich sehr wohl Zugang zu dieser Welt haben konnte.

Weil man nicht zu einer bestimmten Schicht gehören muss, um klassische Musik zu genießen?

Genau. Wie beim Kino auch: Angeblich sind meine Filme ja nichts für ein Massenpublikum, aber wer entscheidet das schon?

Die Person: Chantal Akerman kam 1950 in Brüssel zur Welt. 1967 schrieb sie sich an der belgischen Filmschule ein, brach das Studium aber nach kurzer Zeit wieder ab.

Die Regisseurin: Ein Jahr später drehte sie ihren ersten Kurzfilm, "Saute ma ville", in dem sie eine Frau spielt, die sich in ihrer Küche einsperrt und dort Chaos stiftet. Zahlreiche Spiel- und Dokumentarfilme folgten - jüngstes Beispiel für Akermans Könnerschaft ist "La folie Almayer", der bei der Filmbiennale in Venedig Premiere hatte.

Die Retrospektive: Das Filmmuseum in Wien und das Filmfestival Viennale richten Chantal Akerman im Oktober eine Retrospektive aus. 30 ihrer Arbeiten sind zu sehen, ergänzt durch einige von ihr ausgesuchte Filme, die ihren Blick aufs Kino geprägt haben. Das Programm findet sich unter www.filmmuseum.at und www.viennale.at.

Die Filme: Zu entdecken ist ein eigenwilliges, reiches Werk. Akerman hat an der mexikanisch-US-amerikanischen Grenze gefilmt ("De lautre côté", 2002), hat in "Jeanne Dielman, 23 quai du Commerce, 1080 Bruxelles" (1975) die Existenz einer Gelegenheitsprostituierten minutiös vermessen und sich in "Là-bas" (2008) Gedanken über das eigene Jüdischsein und über Israel gemacht. Auch ihr neuer Film, die Conrad-Adaption "La folie Almayer", wird gezeigt.

Die Frage nach dem Dazugehören ist ja auch im Film zentral. Sie adaptieren einen Roman von Joseph Conrad, "Almayers Wahn", der in einem nicht näher bestimmten Land in Südostasien spielt. Die beiden Hauptfiguren, der Entrepreneur Almayer und seine aus einer Verbindung mit einer Einheimischen hervorgegangene Tochter Nina, wirken fehl am Platz.

Ja. Eigentlich gehört nur die Mutter an den Platz, an dem sie ist, und die wird verrückt, nachdem die Tochter ins Internat geschickt wird. Und dann vielleicht noch der Chinese, der ja eine Art Erzähler ist. Ich habe beim Schreiben viel verändert. Am Anfang war ich sehr dicht an Joseph Conrads Buch dran. Aber je mehr Zeit ich damit verbrachte, in Kambodscha nach Drehorten zu suchen, umso mehr wirkte sich das Land auf mein Schreiben aus. Allmählich wurde mir klar, dass ich das Mädchen in den Mittelpunkt rücken wollte. Warum sollte ich einzig von diesem Kerl Almayer sprechen? Beide Figuren haben Züge von mir, der Vater und die Tochter, der Mann, der alles verliert und verrückt wird, und die starke, junge Frau. Ich bin beide.

Das müssen Sie mir näher erklären.

Nun, ich kann Ihnen nicht alles erzählen. Ich bin manisch-depressiv. Meine Mutter ist aus den Lagern zurückgekommen, sie hat Auschwitz überlebt, viele Mitglieder meiner Familie sind gestorben. Sie hat nie ein Wort gesagt, aber als Kind habe ich das alles gespürt. Ich war ein altes Kind und bin's noch immer, ich kam nicht von der Stelle, höchstens in meinem Kopf.

Auch nicht in Ihrer Arbeit?

Vielleicht mit diesem Film. Alle meine Filme sind minimalistisch. Aber bei diesem habe ich gepusht und gepusht, und es gibt eine Öffnung, etwas Machtvolles. In Kambodscha habe ich mich frei gefühlt. Ich bin im Schlafanzug ans Set gekommen, hatte nicht vorbereitet, was wir drehen würden, ich wollte den Schauspielern ihre Freiheit lassen. Zu Stanislas Merhar, dem Darsteller von Almayer, sagte ich: "Du hast allen Freiraum, den du brauchst. Wir drehen die und die Szene, mach's einfach." Zum Kameramann sagte ich: "Bitte ihn bloß nicht darum, an einer Markierung haltzumachen."

Diesen und viele andere spannende Texte lesen Sie in der sonntaz vom 15./16. Oktober 2011. Am Kiosk, eKiosk oder im Briefkasten via www.taz.de/we. Und für Fans und Freunde: facebook.com/sonntaz.

Braucht man nicht sehr viel Zeit, um so zu arbeiten?

Nein, wir haben schnell gearbeitet, wir haben weniger als sieben Wochen gebraucht, was man dem Film nicht ansieht.

Zumal die Einstellungen ziemlich kompliziert wirken.

Alle haben sehr engagiert mitgemacht. Am Anfang haben wir immer nur einen Take gedreht. Nach einer Woche hieß es aus dem Labor: Da sind Kratzer. Also mussten wir mehr Takes drehen. Ich dachte: "Mist, ein Take ist doch so aufregend!"

Diese Einstellungen dauern lange, und die Kamera bewegt sich langsam.

Aber sie bewegt sich - die ganze Zeit! Natürlich ist mein Film nicht "Matrix" - und er ist schneller als meine übrigen Filme.

Trotzdem ist man sich der Anwesenheit der Kamera stets bewusst, weil sie sich langsamer bewegt als das menschliche Auge.

Aber schauen Sie mal: Sie können doch auch so gucken (sie macht eine sehr langsame Bewegung mit den Augen). Die Kamera folgt der Figur, sie ist nicht frei. Das heißt: Bewegt sich die Figur langsam, dann ist auch die Kamerabewegung langsam. Bewegt sich die Figur schnell, ist die Kamera schnell.

Der Film entwickelt eine große Sensibilität für die Landschaft, für den Fluss und den Wald.

Ich habe Kambodscha geliebt, die Hitze, die Natur. Ich habe in den Fluss gepinkelt, ich bin geschwommen, ich habe mich so frei gefühlt.

Als Filmemacherin sind Sie ja viel unterwegs, Sie haben in den USA gedreht, in Tel Aviv und jetzt in Kambodscha. Zugleich geht es immer wieder um Figuren, die in engen Räumen eingeschlossen zu sein scheinen. Woran liegt das?

Man kann sich selbst nicht loswerden. Das hat auch mit der Geschichte meiner Mutter zu tun. Ich will nicht sagen, dass ich es im Blut hätte, das ist ein dummer Ausdruck. Aber irgendwo in meinen Zellen steckt dieses Gefühl, dass ich im Gefängnis sitze. Zugleich will ich ja wie ein Schwamm sein und alles aufsaugen, was ich sehe. Ich möchte vor dem Drehen keine Idee im Kopf haben, denn dann würde ich nur diese Idee finden und sonst nichts anderes wahrnehmen. Aber mein Gefängnis ist überall. Und sicher, wir haben heute die Psychoanalyse … Ich bin so viele Jahre hingegangen, aber geholfen hat es nichts.

Kein bisschen?

Vielleicht ein bisschen. Aber weil ich so oft unterwegs bin, kann ich nur unregelmäßig hingehen. Wissen Sie, ich bin nicht gläubig, aber ich mag das Buch Exodus sehr. Nachdem Moses das Meer geteilt und die Juden aus Ägypten und aus der Sklaverei herausgeführt hat, lässt Gott ihnen 40 Jahre in der Wüste. Nicht nur wegen der Sache mit dem Goldenen Kalb, sondern damit sie alle Zeichen der Sklaverei verlieren, bevor sie in Kanaan ankommen. Aber den Schwarzen und den Juden, die die Sklaverei überwunden hatten, standen diese 40 Jahre nicht zur Verfügung. Und deswegen kämpfen sie damit, manche kommen besser damit klar, andere schlechter. Für mich war es sehr schwierig, mich von meiner Mutter zu lösen.

Warum?

Weil sie so vieles hat erleiden müssen. Aber wenn man sich nicht löst, kann man nicht atmen. Meine Schwester ist acht Jahre später als ich zur Welt gekommen, das war 1958, da ging es meiner Mutter schon besser, und sie hat von alldem nichts mitbekommen.

Hatten Sie noch mehr Geschwister?

Nein. Und die Schwester habe ich, weil ich es wollte! Meine Mutter sagte immer, ein Kind zur Welt zu bringen sei ein Albtraum. Stellen Sie sich mal vor, wie das ist, wenn Sie das als Kind hören. Irgendwann wurde ich in die Schweiz geschickt, in ein Heim für Kinder, die nicht richtig essen. Ich aß zwar nicht viel, aber genug, um nicht zu verhungern. Als Auschwitz-Überlebende war meine Mutter besessen, wenn es ums Essen ging. Als ich nach drei Monaten aus der Schweiz zurückkam, sagte sie mir, dass ich einen Bruder oder eine Schwester bekommen würde. Natürlich hat sie das für sich getan, aber ich war diejenige, die darauf bestanden hatte. Denn ich wollte nicht die ganze Zeit allein sein. Meine Mutter war ängstlich und ließ mich nicht auf der Straße spielen, ich saß die ganze Zeit am Fenster und schaute nach draußen. Vielleicht bin ich deshalb Filmemacherin geworden.

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