Wer ist Migrant und wenn ja, wie viele?

PROJEKTIONEN Klischees, aus denen man nur schwer herauskommt, kann man sich immerhin bewusst machen. Zum Jahrestag des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens läuft in Istanbul die Ausstellung „Fiktion Okzident“

■ Das Projekt: „Fiktion Okzident – Künstlerische Positionen zwischen Deutschland und der Türkei“ heißt das Projekt, das das Goethe-Institut aus Anlass des 50. Jahrestages des Anwerbeabkommens zwischen Deutschland und der Türkei realisierte. Neben einer Filmreihe, Lesungen, Theateraufführungen und Konzerten präsentiert es eine Kunstausstellung mit 19 Künstlern aus Deutschland und der Türkei. Die Ausstellung, die vom Ministerium für Kultur und Tourismus der Türkei und der Stiftung Mercator unterstützt wurde, ist noch bis zum 10. Dezember 2011 im Ausstellungszentrum Tophane-i-Amire in Istanbul zu sehen. Anfang 2012 wandert die Schau nach Ankara, ab Mai wird sie in Berlin gezeigt.

VON INGO AREND

Auf einem Ottomanen im Anzug. So saß der französische Schriftsteller Pierre Loti 1879 im Istanbuler Stadtteil Eyüp und genoss den Blick auf das Goldene Horn. Der Fin-de-Siècle-Literat ist ein klassisches Beispiel für das, was der Literaturwissenschaftler Edward Said als den orientalistischen Blick geißelte. An seinem Boheme-Sitz fantasierte sich der Palästina-Reisende, der in China einst den Boxer-Aufstand mit niederschlug, eine Welt aus Harem, Krummschwert und Palästen zusammen. Doch dieser Orient habe weder gestern existiert, noch werde es ihn morgen geben, erboste sich der türkische Schriftsteller Nazim Hikmet einst über seinen französischen Kollegen.

Nur weil es diese imaginären Welten gar nicht gibt, sind sie nicht weniger wirkmächtig. Tagtäglich pilgern die Touristen die steile Pfade des muslimischen Friedhofs hinauf zu dem Café, wo Loti seine geliebte Nargile schmauchte. Auch das Hotel Pera, in dem Agatha Christie zu Beginn der dreißiger Jahre ihren „Mord im Orient-Express“ geschrieben haben soll, ist ein Touristenmagnet. Dass der deutsche Steuerzahler am Bosporus ein „Orient-Institut“ unterhält, ist vermutlich den Wenigsten bekannt. Immerhin verstehen sich seine Insassen auch auf Postcolonial Studies.

Am Entstehungsort der Fiktionen vom Orient ausgerechnet eine Ausstellung mit dem Titel „Fiktion Okzident“ in Szene zu setzen wirkt so unkorrekt wie waghalsig. Jetzt, wo mit den Feiern zum 50. Jahrestag des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens eine unerklärte Abbitte für den herablassenden Blick geleistet werden soll. Mit ihm musterte der Okzident, Abteilung Deutschland, die Männer in den zu engen Anzügen und dem tiefen Bartschatten, die plötzlich mit einem ramponierten Koffer und Gebetsketten in der Hand auf deutschen Bahnhöfen standen.

Doch Saids Theorem versuchsweise umzukehren ergibt Sinn. Denn zu dem projektiven Blick, der sich den Orient erschuf, gehörte auch sein Pendant. Die islamischen Schriften durchzieht seit Jahrhunderten die Vorstellung von einem fiktiven Westen, der ebenso verzerrte wie märchenhafte Züge trug. Und auch wenn der naive Blick, mit dem die „Gastarbeiter“ in der Mitte des 20. Jahrhunderts gen Westen zogen, wenig gemein hatte mit Exotik und Bedrohung – den Bestandteilen, aus der sich der Orientalismus „seinen“ Orient braute –, beide Seiten imaginierten sich ihr Gegenüber. „Für uns war vor 50 Jahren Deutschland ein Traum“, erinnerte sich der Maler Yalcin Karayagis, Rektor der Istanbuler Mimar-Sinan-Universität der Künste, am vergangenen Wochenende zur Eröffnung der Ausstellung.

Zu diesem kollektiven Traum passt es, dass der Künstler Irfan Önürmen einen pathetischen Werktätigen mit Hammer in der Hand aus Schokolade gegossen hat. Seine Installation „Arbeiter“ aus dem Jahr 2011 bildet eine Statue nach, die die Republik Türkei zum 50. Jahrestag ihrer Gründung in einem Istanbuler Park aufstellte, gleich neben dem Ausstellungsgebäude Tophane, einem alten osmanischen Waffenlager. Was dem Westen der sinnlich lockende Orient war, war dem Orient das Land, in dem Geld, Arbeit und Luxus flossen. Dass die Skulptur heute ein vandalisierter Torso ist, sagt etwas über die Erosion eines transkulturellen Fantasmas.

Okzidentalismus-Institut

Die ungewohnte Blickrichtung, die die von den Berlin-Istanbuler Kuratoren Johannes Odenthal, Cetil Güzelhan und Emre Zeytinoglu pointiert zusammengestellte Ausstellung vorschlägt, entlastet nicht das „komplexe System der Hegemonie“, das Edward Said attackierte. Die Künstlerin Kinay Olcaytu treibt ihren Spott damit. Unter Titeln wie „Pragmatismus“, „Terrorismus“, „Weihnachtismus“ hat das von ihr gegründete fiktive „Okzidentalismus-Institut“ zufällige Fundstücke aus dem realen Leben zu Tableaus vermeintlich okzidentaler Bewusstseinsformen zusammengefügt.

Auf den ersten Blick wirkt es nur witzig, alte Enzyklopädien, Weihnachtsschmuck und ein Schmetterlingsnetz zu kombinieren. Der szientistischen Willkür des Orientalismus stehen diese bösen Assemblagen aber in nichts nach. Doch wenn Olcaytu von Orientalismus und Okzidentalismus als „siamesischen Zwillingen“ spricht, weist sie auf das Wechselseitige der „Konstruktion des Anderen“ hin, das auch die deutsch-türkische Kulturgeschichte der vergangenen 50 Jahre prägte. Die blonde Frau mit weißem Schleier und Geldscheinen auf den üppigen bloßen Brüsten auf Sedat Mehders Bild „Die nationale Braut“ ist nämlich auch nur eine Fantasie türkischer Männer: eine Frau, mit der sie Sex haben (können), bis sie ihre Jungfrau heiraten (müssen).

Das Modell Mohammed

Mythologisch betrachtet folgte die türkisch-deutsche Migration zunächst dem, was der Essener Sozialwissenschaftler Hasli Hacil Uslucan auf einer parallel zur Ausstellung veranstalteten Migrationskonferenz in der Istanbuler Bilgi-Universität das „Modell Mohammed“ nannte: dem Verlassen der Heimat, um gestärkt in die Fremde zurückzukehren. Und obwohl keiner der 19 Künstler aus Deutschland und der Türkei diese Zeit selbst als Arbeitsmigrant miterlebt hat, gelingt es ihnen gut, die emotionale Seite eines Lebensabschnittes abzubilden, der oft tiefer ging als geplant.

Ein berührendes Beispiel für die Einsamkeit und Isolation, die viele dabei durchlitten, ist das Schicksal des 1937 geborenen Ziya Ekici. Der Gastarbeiter der ersten Generation kam 1970 aus dem anatolischen Kirsehir nach Deutschland. Erst arbeitete er in einer Düsseldorfer Waffenfabrik, dann als Lehrer, bis er 1995 in Duisburg starb. Seinen Seelenzustand verarbeitete er insgeheim in Gedichten, die seine Tochter Nezaket Ekici, Jahrgang 1970, nach seinem Tod übersetzen ließ. Still lauschten die Eröffnungsgäste dem Vers: „Wir schaukeln in der Luft.“

Migration ist im Zeitalter der Globalisierung nicht mehr ein Exodus von biblischen Ausmaßen. Von postmigrantischen Zeiten ist die Welt aber wohl doch noch etwas entfernt. Auch wenn die Ausrüstung moderner geworden ist: Neben die brüchigen Pappkoffer der sechziger Jahre hat Denizhan Özer in seiner Installation „Luggage Room“ die Trolleys der Easy-Jet-Migranten von heute gepackt. Ständig zwischen den Welten zu wandern bleibt aber ein strapaziöser Ausnahmezustand.

Das klassische Bild des Arbeitsmigranten der sechziger Jahre gehört der Vergangenheit an. Auf dem Bild „Arbeitsvertrag“ des 1947 geborenen Malers Hanefi Yeter von 1977 sieht man einen ausgemergelten Mann mit überdimensioniertem Schnurrbart und Grubenlampe auf dem Helm. Im Hintergrund schweben Fetzen des bürokratischen Zwangssystems Anwerbeabkommen: Verträge, Sichtvermerke, Behördenstempel.

Wie tief das Negativbild aber immer noch sitzt, zeigt Sedat Mehders Fotoserie „Die üblichen Verdächtigen“. Da sehen die deutschen Grünen-Politiker Dilek Kolat, Özcan Mutlu oder Cem Özdemir aus, als seien sie gerade erkennungsdienstlich behandelt worden. Und als die deutsch-türkische Künstlerin Esra Ersen Kölner Gymnasiasten bat, die Köpfe von Türken mit Ton nachzubilden, ähnelten sie verblüffend denen aus Pappmaschee, die Habsburger Reiter 1814 beim „Türkenkopfstechen“ in Wien vom Postament schlugen. In Istanbul in einem nachgebauten Hörsaal aufgestellt, wirken die juvenilen Imaginationen plötzlich wie ein Panoptikum der Rassenlehre. Das vermutlich nicht nur durch Thilo Sarrazins Kopf spukt.

Wie schwer man aus diesen Klischees herauskommt, kann man an Ali Kepenek sehen. Eigentlich wollte der Fotograf eine Skulptur von sich selbst herstellen und sie dann in Stücke reißen, um seine zerrissene Identität zu demonstrieren: „Ich bin weder Deutscher noch Türke. Ich lebe einfach alles aus“, sagt der 1968 in Bursa geborene Langzeitberliner, der wegen seines Alltagsrassismus Deutschland schließlich den Rücken kehrte und heute in London lebt.

Bei Kepenek ist die transnationale Identität, die die Migration des 21. Jahrhunderts irgendwann hervorbringen mag – und die das Istanbuler Symposium ziemlich kritisch beäugte – noch eine Schmerzerfahrung. Die erotisch aufgeladenen Körper auf dem Werk „Religion – Sex und Gewalt“, das er schließlich ausstellte, sind Gezeichnete. Eines schönen Tages könnte es aber vielleicht doch noch attraktiv werden zu sagen: Ich bin viele, also bin ich.