OCCUPY: DAS KIND IN UNS WIEDERENTDECKT
: Die vorgespielte Demokratie

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VON ARAM LINTZEL

Die wollen doch nur spielen. Als Kinderkram denunzierten einige die Occupy-Proteste, der ehemalige rot-grüne Bundespräsidentschaftskandidat Joachim Gauck fand sie sogar „unsäglich albern“. Das mag unsäglich zynisch klingen, trifft aber einen wahren Kern. Denn natürlich sind die Proteste auch politische Inszenierungen von Infantilität.

Nicht erst seit gestern verheißt das spielende Kind so etwas wie ein besseres, nicht entfremdetes Leben. Friedrich Schiller plädierte für ein „freies Spiel der Erkenntniskräfte“ und viele historische Avantgarden des 20. Jahrhunderts waren ins Spiel verliebt. Die Situationisten etwa wollten die Gesellschaft im Spiel aufgehen lassen beziehungsweise umgekehrt, das totale Spiel bedeutete für sie die totale Freiheit.

Während Schiller und die Situationisten im Kinderspiel noch potenziell revolutionäre Energien am Werk sahen, ist das Spielen heute allerdings zur Pflichtaufgabe degeneriert. Abteilungsleiter spielen Fantasiespiele, um auf bessere Ideen zu kommen, und das obligatorische lebenslange Lernen soll am besten „spielerisch“ gelingen. Das Spiel hat seine utopische Kraft weitgehend verloren und ist eine wichtige Ressource von Wertschöpfung geworden.

Vor diesem Hintergrund lassen sich die Occupy-Proteste durchaus als Wiedereroberung des „Kindes in uns“ deuten: Es gilt, das Prinzip des Spielerischen zurückzugewinnen und es vor der endgültigen Korruption zu bewahren. Wenn die Philosophin Judith Butler bei ihrem Auftritt am New Yorker Liberty Square „We demand the Impossible“ ruft, dann ist das eine infantile Maximalforderung in ebendiesem Sinne.

Auch die Dialogverweigerung, die der virtuelle Revolutionsführer Slavoj Zizek den Protestierenden kürzlich in der Süddeutschen Zeitung riet, hat etwas von kindischem Trotz. Gleichwohl sollen diese Regressionen nicht auf sicheres Gelände führen, sondern ins Offene, dorthin, wo sich ungeahnte politische Alternativen erst auftun können.

Das Spiel hat den Nimbus der Verantwortungslosigkeit und des Unproduktiven, es muss nichts Sinnvolles oder Nützliches hervorbringen. Die rhetorische Gegenstrategie bestand denn auch darin, die Okkupisten schnell in die erwachsene Welt der Verantwortlichkeit heimzuholen.

Alsbald war das gönnerhafte verbale Schulterklopfen im Jargon der Realpolitik zu hören, von wegen die Protestierenden hätten ja „legitime Forderungen“. In der jetzigen Phase der Proteste geht es aber gerade nicht um handfeste Resultate. Das Spiel trägt seinen Zweck in sich selbst und die Aktivistinnen und Aktivisten spielen nicht auf Ergebnis. Vielmehr sind die Besetzungen als bloßes Ereignis der performative Vorschein einer demokratischeren und gerechteren Welt, sozusagen vorgespielte Demokratie.

„Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“, lautet der bekannte Spruch aus Friedrich Schillers Briefen über die ästhetische Erziehung. Das Spiel: eine unbescholtene Praxis jenseits von Kalkül, Interesse und Fremdbestimmung? Vielleicht ist das dann doch einen Tick zu sentimental, vielleicht sollte man Schillers humanistischer Verklärung nicht vollständig auf den Leim gehen. Vermutlich sollen die Occupy-Aktivitäten nicht zuletzt deswegen mit repressiver und verniedlichender Toleranz entschärft werden, weil sie die Unterscheidung von Spiel vs. Ernst als solche aufs Korn nehmen. Mit ihren Interventionen weisen die Protestierenden darauf hin, dass das offizielle, angeblich seriöse Gesellschaftsspiel nur ein mögliches Spiel neben anderen ist. Die tautologische Ansage: Wir spielen doch nur, so wie ihr auch!

Der hegemoniale Bierernst ist auch nur ein Spiel. Nur schlagen die Occupy-Leute eben andere, lustigere Games vor. Der französische Philosoph Roger Caillois unterschied in seinem Buch „Die Spiele und die Menschen“ vier Grundlagen des Spiels: Wettkampf, Zufall, Maskerade und Rausch. Die Besetzer bevorzugen offenbar die letzteren beiden. Gut möglich, dass sich den Führungsspielern, die während der sogenannten Finanzkrise das Spiel bestimmen wollen, allein mit Schein und Unvernunft die Maske des Vernünftigen abreißen lässt.

■ Aram Lintzel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Grünen-Bundestagsfraktion und freier Publizist in Berlin