Mit Tinte befleckte Finger

HISTORIENFILM Wer hat „Romeo und Julia“ geschrieben? „Anonymus“ von Roland Emmerich weiß es: Der Earl of Oxford war’s – der war viel aufregender als Shakespeare

Die Oxfordianer wollen Shakespeare nicht als biederen Mann sehen, sondern als Popstar avant la lettre

VON BARBARA SCHWEIZERHOF

Ob wirklich William Shakespeare all jene berühmten Theaterstücke und Sonette geschrieben hat oder ob es ein anderer war, der sich nur so nannte – das spielt für die meisten keine Rolle. Nun aber bringt mit „Anonymus“ ausgerechnet Roland Emmerich – bislang eher bekannt für Filme, die nicht so aufs Detail achten – dem Mainstreampublikum eine Debatte nahe, die unter einigen Shakespeare-Liebhabern und -Forschern seit Jahrzehnten mit sektiererischem Eifer geführt wird. Die Sektierer nennt man „Oxfordianer“, weil sie der Meinung sind, dass eben nicht der einfache Schauspieler aus Stratford-upon-Avon, der doch nur eine „grammar school“ besucht hat, sondern der hochwohlgeborene und viel interessantere 17. Earl of Oxford, Edward de Vere, der wahre Autor ist.

Zu den prominenten Vertretern dieser Oxorfdianer zählt der Schauspieler Derek Jacobi, den man zu Beginn von „Anonymus“ in ein Londoner Theater hetzen sieht, wo er einem ehrfürchtig lauschenden Publikum die Standardargumente gegen Shakespeare als Autor seines Werks vorträgt. Während er noch spricht, verzieht sich die Kamera in die Kulissen, nimmt dort ein paar kostümierte Wachen ins Auge, die gerade dabei sind, ihre Theaterfackeln zu entzünden – aber statt auf die Bühne laufen sie plötzlich in einen Film, hinein in die kopfsteingepflasterten Gassen des elizabethanischen London, wo gerade ein gewisser Ben Johnson (Sebastian Armesto), seines Zeichens bekannter Theaterautor, wegen seiner Schriften in Konflikt mit der Krone gerät. Nur dass es sich bei diesen Schriften eben nicht um die seinen handelt, sondern um die eines gewissen Earl of Oxford (Rhys Ifans), wie dessen stets mit Tinte befleckte Finger belegen. Wie nun Johnson an Oxfords Manuskripte kommt und warum sie mit dem Namen „William Shakespeare“ signiert sind, obwohl es sich beim gleichnamigen Schauspieler (Rafe Spall) um einen eitlen Analphabeten handelt, das zeichnet der Film in leicht konfusen Zeitsprüngen nach.

Es wäre kein Emmerich-Film, wenn nicht auch ein bisschen Katastrophentheorie in die Literaturdebatte hineinspielte: Die Frage der Shakespeare-Autorschaft entpuppt sich in „Anonymus“ als entscheidend für den Fortbestand der englischen Monarchie. Aber hallo. Für das etwas schwergängige Hin und Her zwischen Theaterleben und Hofintrigen entschädigen die passend zur Handlung eingestreuten Stückszenen, eine Art Best-of, in denen der große Shakespeare-Schauspieler Mark Rylance – ebenfalls Oxfordianer – als herausragendes Ensemblemitglied des Globe Theatre brilliert.

Überhaupt registriert man bald mit Erleichterung, dass „Anonymus“ sich weit weg bewegt von jener zuckerwattigen Pseudoheiterkeit, die „Shakespeare in Love“ seinerzeit zu einem Saisonrenner machte, über den man heute leicht angewidert den Kopf schüttelt. Und obwohl er es mit dramatischen Theaterbrand- und Thronumstürzlerszenen nicht ganz lassen kann, zwingt der Stoff den Action-Regisseur Emmerich doch zu einer gewissen Zurückhaltung, die wie noch in keinem anderen seiner Filme die Schauspieler zur Geltung bringt. So gibt etwa Vanessa Redgrave ein wunderbares Porträt einer alten, im Geiste bereits etwas schütteren Elizabeth, während ihre Tochter Joely Richardson die junge, lebenshungrige Königin spielt. David Thewlis und Edward Hogg verkörpern finstere Thronberater, deren Intelligenz zu unterschätzen sich als schlimmer Fehler erweist. Vor allem Rhys Ifans überrascht als am eigenen Talent scheiternder Earl of Oxford.

Was zunächst als Manko erscheint, stellt sich also als Qualität heraus. Emmerich und vor allem sein Drehbuchautor John Orloff machen es sich und ihrem Publikum nicht allzu leicht. Der „wahre“ Autor der Shakespeare-Stücke ist hier nicht einfach ein anderer, der eben auch schreiben konnte, er ist ein Mann mit kompliziertem Schicksal und entsprechender Pathos-Pose. Man versteht am Ende tatsächlich, was die Oxfordianer eigentlich antreibt: Sie wollen Shakespeare nicht als biederen Mann sehen, sondern als den narzisstischen, verkannten Popstar seiner Zeit.

■ „Anonymus“. Regie: Roland Emmerich. Mit Rhys Ifans, Vanessa Redgrave u. a. USA 2011, 129 Min.