Die Elixiere des Popteufels

HYBRIS An dem Album „Smile“ scheiterte Brian Wilson legendär. Nun wurden die Originalaufnahmen veröffentlicht. Ist jetzt alles gut?

VON TIM GANE

In den achtziger Jahren stolperte ich über das Album „Smiley Smile“ von den Beach Boys. Ich war davon so begeistert, dass ich mich gründlicher mit ihnen beschäftigte.

Und so erfuhr ich von ihrem „anderen Album“, das nie erschienen war: „Smile“. Für den Sound von Stereolab war „Smile“ maßgeblicher Einfluss. Wir wollten Krautrock mit Beach-Boys-Gesang kombinieren – so die ursprüngliche Idee. Zum einen kamen uns die minimalistischen Grooves von Krautrock entgegen, weil wir keine besonders versierten Musiker waren. Darüber hinaus stellten wir fest, dass wir so mehr Spielraum hatten, um mit Gesang zu experimentieren. Ich war fasziniert von Brian Wilsons eigenartigen Kinderlied-Melodien aus der „Smile“-Phase.

Außerdem war mir das „modulare“ Songwriting, also die Montage von Songs aus einzelnen Bausteinen, wie das Brian Wilson bei Songs wie „Good Vibrations“ entwickelt hatte, sehr vertraut. Bei Stereolab entwickelten sich Songs auch aus kleinen Schnipseln, die miteinander kombiniert und dabei ständig verändert wurden.

Für mich waren die Einzelteile von „Smile“ deswegen viel interessanter als ihre Summe. Gerade die Tatsache, dass „Smile“ so bruchstückhaft war, machte für mich seinen Reiz aus. Mit jedem neuen Bootleg kamen weitere Puzzleteile zum Vorschein, ein neuer Track, ein noch nie gehörtes Detail einer Session. Wie in Aladins Schatzkammer. Auf diese Weise konnte man seiner Fantasie freien Lauf lassen und das Werk frei interpretieren.

„Smile“ war ein Konzeptalbum, dessen Konzept niemals realisiert oder definiert worden war. Deshalb gefallen mir die jetzt veröffentlichten „Smile Sessions“ auch viel besser als Brian Wilsons Neuaufnahme von 2004. Damals wurde „Smile“ wie ein klassisches Orchesterstück interpretiert, das man immer wieder aufführen kann. Das mag live funktioniert haben, aber auf dem Album klang es für mich steif und die Verspieltheit des Originals blieb dabei auf der Strecke. Die „Smile Sessions“ versammeln dagegen all jene Einzelteile, die ich so liebgewonnen habe.

Die Arbeit Brian Wilsons für „Smile“ hat eine Hingabe, die man sonst eher mit spiritueller Musik verbindet. Er meinte das in einem ganz unschuldigen Sinne ernst mit seiner „teenage symphony to God“.

Diese Tiefe fehlt, wenn sich heutige Bands von seiner Musik inspirieren lassen. Man kann nur die Architektur übernehmen und bleibt damit an der Oberfläche. Dessen muss man sich bewusst sein.

PROTOKOLL: NOEL RADEMACHER

Tim Gane war Gitarrist der Band Stereolab. Er lebt in Berlin und arbeitet derzeit an einem Soundtrack für den neuen Film von Marc Fitoussi

VON DETLEF DIEDERICHSEN

Dass ein Musiker dem Leibhaftigen seine Seele überlässt, um dafür die Fähigkeit zu erhalten, übermenschliche Meisterwerke zu schaffen, ist ein von Robert Johnson bis Thomas Mann immer wieder aufgegriffener Mythos. Was passiert, wenn man sich aus so einem Deal vorzeitig zurückzieht, das zeigt das Beispiel Brian Wilson.

Legt nicht die Brillanz des 1966 erschienenen Beach-Boys-Albums „Pet Sounds“ den Schluss nahe, dass Wilson schon halbwegs dahingesunken war? „Pet Sounds“ war bereits halb Teufelswerk. Mitten in der Arbeit am noch kühneren „Smile“, das die Popgeschichte in ein Vorher und ein Nachher geteilt hätte, gegen das „Pet Sounds“ ein naives Vorgeplänkel gewesen wäre und das sogar Wilsons finsteren Vater zum Schweigen gebracht hätte, muss es Brian Wilson gedämmert haben, dass die ewige Verdammnis vielleicht doch kein angemessener Preis ist. Vielleicht gab es eine Rücktrittsklausel, jedenfalls kam Brian Wilson, das Genie der Beach Boys, frei.

Aber zu welchem Preis! Er wird mit einer tiefschwarzen Depression geschlagen und ist fortan unfähig, irgendeine Art von Musik zu erschaffen. Als er schließlich nach einem Jahrzehnt einigermaßen wiederhergestellt scheint, kann er nur noch Kinderlieder. Dann schlägt die Depression erneut zu, außerdem werden ihm seine Brüder Dennis und Carl genommen, seine Ehe scheitert, und er wird per Gerichtsbeschluss bei den Beach Boys gefeuert.

Die Beach Boys singen 1966 und 1967 voller Leidenschaft und Soul. Man hört ihnen eine Sixties-Begeisterung für die Eroberung von Neuland an

Nur anders als in der Welt der Mythen gibt es so etwas wie ein Happy End. Nach vielen Psychiatern und Irrwegen findet Brian Wilson in den neunziger Jahren zu relativer Stabilität zurück. Er heiratet erneut und zeugt fünf weitere Kinder, stellt eine neue Band zusammen, mit der er auf Konzertreisen geht, und veröffentlicht regelmäßig neue Alben. 2004 präsentiert er sogar eine neu eingespielte Rekonstruktion des Meisterstücks „Smile“.

Wie es aussieht, wird es das noch oft geben: das definitive „Smile“. Aufgrund seiner Nichtfertigstellung, damals 1967, und der heutigen Kondition seines Schöpfers wird dieses Werk auf ewig unvollendet bleiben. In den achtziger Jahren tauchten erste Bootleg-Versionen auf und es begann eine Interpretations- und Editionsgeschichte, die mit der 2004er Version zunächst zu einem Endpunkt kam. Nun gibt es mit der Veröffentlichung der Originalaufnahmen wieder einen neuen Stand.

Wie es heutzutage üblich ist, erscheint das Werk in verschiedenen Versionen. Im Handel wird es als Einzel-, Doppel- und Fünffach-CD sowie als Vinyl-Doppelalbum verkauft, weitere Versionen bietet die Beach-Boys-eigene Webseite an. Die Einzel-CD, das eigentliche Werk, folgt weitgehend der 2004er Edition, was Titelauswahl, Version, Reihenfolge und Edits angeht. Sie zeigt vor allem, wie schwach die rekonstruierte, sprich: nachgespielte Version von 2004 war. Im Vergleich mit den Originalaufnahmen wird jetzt klar: 2004 war eine Übermacht stumpfer Mucker am Werk, die die emotionale Vielschichtigkeit der Musik komplett überforderte.

Anders die Beach Boys 1966 und 1967, die voller Leidenschaft und Soul singen und denen man, obwohl sie mitunter am Gesamtkonzept zweifelten, eine Sixties-Begeisterung für die Eroberung von Neuland anhört. Begnadet die L.A.-Sessionmusiker, aber das waren eben auch alles klassisch ausgebildete Granaten, einige von ihnen hochmögende Solokünstler. Persönlichkeiten. Die 2004er Dramaturgie ist insofern diskutierbar, als es sich beim Archivmaterial um ein Patchwork aus teilweise winzigen Fragmenten handelt, von denen sich viele aufeinander beziehen. Klar abgegrenzte Songs gibt es kaum – man hätte die Snippets also auch ganz anders zusammenfügen können. Unverständlich ist auch, dass der majestätische Song „Can’t Wait Too Long“ fehlt, der 1993 auf der „Good Vibrations“-Box zum ersten Mal legal veröffentlicht wurde.

VON CARSTEN MEYER

Selbstverständlich besitze ich einen „Smile“-Bootleg und war auch auf dem „Smile“-Konzert in Frankfurt vor ein paar Jahren. Aber es ist nicht gerade meine Lieblingsmusik der Beach Boys. Ich bevorzuge ihre späteren Alben, auf denen Brians jüngerer Bruder Carl das Ruder übernimmt, wie „Sunflower“ und „Friends“. „Smile“ ist eher Mahnmal dafür, sich nicht zu verzetteln. Schon früh fiel mir der Wahnsinn auf, der hinter Wilsons Produktionen wie „Good Vibrations“ steckt. Es ist eine Bastelarbeit mit zu vielen Parts. Mit International Pony haben wir auch so gearbeitet, viele Parts, immer kurz vorm Verheddern. Richtig toll wird es erst, wenn ein Song durch mehrere Transformationen geht, ohne dass man es bewusst mitbekommt.

An „Smile“ interessiert mich eher der psychologische Aspekt. Denn für Brian Wilson war dies ein Moment sozialer Überforderung. Als er 1966 mit „Pet Sounds“ sein Meisterwerk vorlegte, überschlugen sich die Beatles und andere Zeitgenossen mit Lobpreisungen. Auf einmal galt Brian Wilson als hip. Aber er war schüchtern und unsicher, als er zum König des California Cool gekürt wurde.

Brian Wilson war nur im Studio ein Alphatier, wenn er seinen Sessionmusikern erklärte, was er hören wollte. Aber jetzt war er angesagt und musste mit diesen brabbelnden, drogenvernebelten Intellektuellen mithalten. Und für „Smile“ brauchte er also ein „Konzept“ – irgendwas Ausgeflipptes mit tieferer Bedeutung. Dabei wollte er doch nur schöne Musik machen. Also holte er sich ausgerechnet Van Dyke Parks zu Hilfe.

Dazu eine Anekdote: Anfang 1967, als der Erwartungsdruck für Brian schon zur Last geworden ist, schaut plötzlich Paul McCartney im Studio in L. A. vorbei. Paul ist hübsch, modisch und strotzt vor Selbstbewusstsein. Brian ist dicklich, unsicher und trägt Kinderkleidung. Als Paul bei den Aufnahmen zu „Vega-Tables“ in Karotten beißt, ist die Stimmung noch gut. Aber der alte Angeber kann es nicht lassen und setzt sich ans Klavier, um Brian das frisch komponierte „She’s leaving Home“ vorzuspielen. Brians Frau fängt an zu heulen, weil’s so schön ist. Brian liebt es auch, aber es ist der erste Nagel im „Smile“-Sarg. Mit Wucht hereingeschlagen von McCartney.

Ein selbstbewusster junger Mann, der sich auf sein Talent verlassen kann, hätte all diese Schwierigkeiten umschifft und sein Ding durchgezogen. Und nicht zweifelnd am Klavier gesessen. Aber Brian Wilson war einfach nicht gemacht für diese Zeiten. Besser lässt es sich nicht ausdrücken.

PROTOKOLL: NOEL RADEMACHER

Carsten Meyer alias Erobique war Teil von International Pony und lebt in Hamburg. Zurzeit arbeitet er an der Musik für Stefan Puchers Inszenierung von „Don Quichotte“

Heute ist Brian Wilson künstlerisch denkbar weit entfernt von solchen Höhenflügen, wie sein zeitgleich erschienenes Soloalbum „In the Key of Disney“ zeigt. Alben mit Songs aus Disney-Filmen gibt es immer wieder mal, zuletzt beschäftigten sich Los Lobos charmant mit dem Thema. Brian Wilson versagt auf allen Feldern, bei Songauswahl, Interpretation und Produktion – das Ergebnis eignet sich weder für die Sesamstraße noch fürs Mainstream-Radio, einige schöne Songs sind regelrecht gemeuchelt worden. Wohlgemerkt stand Brian hier dieselbe Band zur Seite, mit der er 2004 „Smile“ aufnahm.

2011 kann Brian Wilson also nicht mal mehr Kinderlieder. Welch perfide Strafe für den Mann, der einst der Welt – fast – „Smile“ geschenkt hätte.

The Beach Boys: „Smile Sessions“ (Capitol/EMI Special Marketing); Brian Wilson: „In the Key of Disney“ (Disney Pearl Series/EMI)