Vergangenheitsbewältigung in Türkei: Bruch mit dem Völkischen

Zum ersten Mal hat sich ein türkischer Ministerpräsident für Massaker an Minderheiten öffentlicht entschuldigt. Das ist doch mal ein Anfang.

Die meisten Aleviten in der Türkei sehen in der Entschuldigung mehr Taktik denn Reue. Bild: reuters

ISTANBUL taz | Cafer Solgan ist ein ruhiger, eher zurückhaltender Mensch. Er arbeitet als Journalist, ist aber vor allem durch seine Bücher über Dersim bekannt geworden. Dersim ist eine Bergregion in Ostanatolien, die von Kurden alevitischen Glaubens bewohnt wird. Cafer Solgan ist einer von ihnen.

"Als kurdische Aleviten sind wir gleich doppelt in der Minderheit. Das bestimmt unsere Identität." Die Identität der Menschen aus Dersim wird aber noch durch einen dritten Punkt, ein historisches Traumata, bestimmt: die Massaker von Dersim 1937/38.

Das historische Trauma, lange ein Tabu in der öffentlichen Debatte, ist Cafer Solgans Lebensthema. Er hat dem Massaker von Dersim mehrere Bücher gewidmet, er will, das die Wahrheit auf den Tisch kommt und den Menschen von Dersim Gerechtigkeit widerfährt. "Die Wahrheit ist", sagt Solgan, "dass in den Jahren 1937 und 1938 mehr als 20.000 unschuldige Menschen ermordet wurden. Aus Gründen der Prävention." Und: "Es war das schlimmste Massaker in der Geschichte der jungen Türkischen Republik."

Den Namen Dersim sucht man auf einer Türkei-Karte heute vergeblich. Im Zuge der Massaker und Deportationen Ende der dreißiger Jahre wurde die Region in Tunceli umbenannt. In der offiziellen Geschichtsschreibung der Republik waren die Militäraktionen in Dersim notwendig zur Niederschlagung eines kurdischen Aufstandes. Vielleicht etwas überzogen, aber doch eine legitime Reaktion des Staates gegenüber einer aufständischen Bevölkerung.

Aufstände der Kurden nach 1923

Es hat nach der Gründung der Türkischen Republik 1923 mehrere kurdische Aufstände gegeben, die sowohl ethnisch als auch religiös motiviert waren. Die Kurden fühlten sich nach dem Unabhängigkeitskrieg gegen die alliierten Besatzer um ihren Anteil betrogen, als klar wurde, dass die Republikgründer um Mustafa Kemal aus dem ehemaligen osmanischen Vielvölkerstaat einen möglichst homogenen türkischen Nationalstaat machen wollten; und sie wehrten sich gegen eine Modernisierung, die das religiös bestimmte Leben durch einen säkularen Staat ablöste.

Nach mehreren niedergeschlagenen Kurdenaufständen in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren waren die Massaker von Dersim dann der Schlussakt zur Unterwerfung der kurdischen Minderheit.

Die Bevölkerung von Dersim galt schon unter den Osmanen als widerständig. Sie verschanzte sich in ihren Bergen und weigerte sich, Steuern zu zahlen. Nicht anders verhielt sie sich in Zeiten der Republik. Folgt man den Recherchen von Safer Colgan, gab es gar keinen Aufstand, sondern nur einige lokal begrenzte Auseinandersetzungen, die die damalige Staatsführung dann zum willkommenen Anlass nahm, um in Dersim Tabula Rasa zu machen.

Lange blieben die Gräuel von Dersim ein randständiges linkes Thema, bis die Debatte vor zwei Jahren in der größten Oppositionspartei CHP ausbrach. Die CHP ist die Partei Mustafa Kemal Atatürks und war in den dreißiger Jahren die alleinige Staatspartei in einer Einparteiendiktatur. Nachdem einige kemalistische Hardliner der Partei den damaligen Militäreinsatz noch einmal öffentlich verteidigt hatten, wandten andere aus der Partei sich offensiv dagegen.

Ein Bruch wäre heilsam

Eine unglückliche Rolle spielt dabei der neue Vorsitzende der CHP, Kemal Kilicdaroglu. Er sollte die Partei modernisieren und sie aus ihrer selbst gewählten, nationalistisch-kemalistischen Rückwärtsgewandtheit befreien. Eine offene Abrechnung mit den eigenen ideologischen Vorvätern, die für die Massaker von Dersim die Verantwortung tragen, wäre eine gute Gelegenheit für den Bruch gewesen. Doch Kilicdaroglu kommt selbst aus Dersim.

Er stammt aus einer alevitischen Familie, und er fühlt sich offenbar in der Debatte befangen. Statt ein klares Schuldbekenntnis abzulegen und damit einen heilsamen Bruch mit einer nationalistischen Politik zu vollziehen, die bis heute die türkische Politik verheert, laviert er herum und versucht die Debatte in der Partei zu unterdrücken.

Das war eine Steilvorlage für die regierende AKP und Ministerpräsident Erdogan. AKP-nahe Publizisten stiegen begeistert in die Debatte ein, nicht zuletzt, weil sie als Islamisten die säkulare Republik sowieso für einen Betriebsunfall der Geschichte halten. In einer erregten Parlamentsdebatte sagte Ministerpräsident Erdogan dann, wenn die CHP dazu nicht in der Lage wäre, würde er sich, im Namen des Staates, bei den Nachkommen der Toten von Dersim entschuldigen für das staatliche Unrecht, das damals verübt worden ist.

Wow, das erste Mal in der Geschichte der Republik entschuldigt sich ein türkischer Ministerpräsident für staatliche Gräueltaten! Ist Safer Colgan mit der Entschuldigung des Ministerpräsidenten zufrieden? "Nun ja", sagt er, "es ist ein Anfang." Die meisten Aleviten in der Türkei, die dem Sunniten Erdogan sowieso misstrauen, sehen in der Entschuldigung mehr ein parteitaktisches Manöver als ein echtes Reuebekenntnis.

Trotzdem hat Erdogan mit seiner Entschuldigung eine Linie überschritten, hinter die er nun nicht mehr zurückkann. Sofort wurden Stimmen laut, die sagten: Wer sich bei den Aleviten entschuldigen kann, kann das auch bei den Armeniern und anderen Minderheiten, die unter der Homogenisierungspolitik der Republik gelitten haben. Noch sind dies Einzelmeinungen, doch das kann sich schnell ändern.

Auch Safer Colgan ist der Meinung, dass zwischen dem Genozid an den Armeniern und den Massakern an den alevitischen Kurden eine direkte Linie besteht: "Das war derselbe ideologische Hintergrund der völkischen Vereinigung."

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.