Teetrinken und Weltrevolution

THEATER Die Protagonisten eines kommenden Aufstands reden aneinander vorbei: Kevin Rittbergers „Puppen“ in Düsseldorf

Zu Beginn ist die Welt noch in Ordnung. Ein Ensemble aus Musikern, gekleidet in die sackige Uniform der Kulturrevolution, baut seine Instrumente auf der Bühne des Düsseldorfer Schauspielhauses auf und spielt eine zehnminütige Ouvertüre für das Theaterstück „Puppen“. Streicher und Bläser legen sich über repetitive Phrasen von Klavier und Vibrafon und produzieren einen minimalistisch reduzierten Agitprop: Hanns Eisler siegt über Philip Glass, die Rebellen marschieren gegen das Empire.

Einen „kommenden Aufstand“ habe er beim Schreiben geahnt, teilt Kevin Rittberger, der Autor und gleich auch Regisseur dieser deutschen Erstaufführung (an der Wiener Burg hat im vergangenen Oktober die Uraufführung stattgefunden), im Programmheft mit. Und weil er den geahnten Aufstand nicht bebildert, klinken sich die Töne direkt in den Strom der Erinnerungsbilder vom Syntagma-Platz, Zuccotti-Park oder von den eingekesselten Studenten vor dem englischen Unterhaus ein.

Wobei man mit solchen Konkretisierungen diesem Stück Unrecht tut. Denn als sich das Figurenensemble nach der Ouvertüre innerhalb des minimal gehaltenen Bühnenbilds auffächert, ist „der Demonstrant“ nicht Teil desselben. Stattdessen berichtet eine „Frau, die vom Schwindel überfallen wird“, von ihren Erlebnissen auf einer Demonstration: den Sprechchören, dem Aufgehen in der Masse, das ihr als Gefühl des Untergehens auf merkwürdige Weise zu nahezutreten scheint. Immer wieder versucht sie, ihre Euphorie zu rechtfertigen, träumt davon, Teetrinken und Weltrevolution in Einklang zu bringen – als wäre ihren Klagen das Wissen um das eigene Privileg schon eingeschrieben.

Diese oder eine ähnliche Ambivalenz ist die Eigenschaft fast aller Figuren in „Puppen“. Wobei Figuren vielleicht schon wieder zu viel Fülle suggeriert. Rittberger präsentiert lieber Typen, Klischees, die kein Privatleben abseits der beruflichen Existenz auf der Bühne haben. Der „Fleischer, der hinter der Aussage steht auch ohne Fleisch“, ist so ein Typ. Stämmig, laut und in graugummierter Fleischerschürze hadert er mit dem Wandel seines Berufs, ärgert sich darüber, dass er Fassbrause verkaufen muss, um über die Runden zu kommen. „136 Jahre Fleischerhandwerk“ haben so etwas eigentlich nicht nötig. Als Reaktion flüchtet er sich in den Stolz seines Berufsstands und arbeitet an einer 90 Meter langen Wurst. Sie soll den Hunger ein für alle Mal stillen, obwohl kein Fleisch mehr da ist. Und die „Frisörin“ wird sich irgendwann bewusst, dass auch die Schönheit ihrer Haare sie nicht aus der Ausweglosigkeit ihrer Arbeit befreien wird. Ratlos schaut sie auf die Demonstration vor ihrem Fenster und imaginiert sich ins Zentrum der Geschichte.

Selbst der „Klandestine“ kann die restlichen Figuren nicht in die Geschichte zurückführen. Er ist derjenige, der sie mit ihren Grenzen konfrontiert. Als edler Wilder in Lederweste und mit langem, fettigem Haar liefert er Heldengeschichten vom Drogenschmuggel, von schnellem Sex und der Flucht aus dem Alltag. In einer Szene tanzt er mit der „Frau, die vom Schwindel überfallen wird“, wirft sie in die Höhe und fängt sie wieder auf, bevor sie erneut vom Schwindel überwältigt wird. „Man müsste die Energie von Puppen, die ihre Stricke verlieren, nutzen“, sagt er zu ihr. „Aber nicht zur schöpferischen Zerstörung.“

Kevin Rittberger gibt sich in seinen Szenen dann auch mit der alleinigen Zerstörung der höheren Moral zufrieden. Sein Figurenensemble fügt sich nicht zusammen, ihre Kontakte bleiben flüchtig, ihrem Zusammentreffen wohnt keine Politik inne. Die heroische Ouvertüre wird im Stück nur noch als Echo erkennbar und löst sich immer wieder in hohe Sinustöne oder Weißes Rauschen auf. Die große Gegenerzählung des moralisch erhabenen Theaters – sie bleibt aus.

In der letzten Szene muss sich der Fleischer dem „Chor, der die Arbeit abschafft“, stellen. Seine Existenz als Fleischer geht dem Ende zu, er steht am Pranger, wo er den niederprasselnden Phrasen des Chors von Selbstverwirklichung, Chancen und Konsumentenwohlfahrt ausgesetzt ist. Spätestens hier steht das Stück kurz davor, in die Lächerlichkeit zu kippen. Der Monolog des Chors wird zur Revue von Absurditäten, gegen die selbst die stereotyp gezeichneten Figuren noch allzu menschlich wirken. Dann senkt sich der Vorhang und wird zur Leinwand, auf der die Figuren etwas ratlos in großen Videofotografien platziert sind. Um sie herum stehen alte Fabrikhallen, S-Bahn-Brücken und ein Gewächshaus im Düsseldorfer Umland. Es sind die Spuren deterritorialisierter Kapitalströme, in denen die reterritorialisierten „Puppen“ nur noch Zeichen der Überflüssigkeit sind.

CHRISTIAN WERTHSCHULTE