Die verlorenen Juden von Paris

DEPORTATIONEN In „Sarahs Schlüssel“ von Gilles Paquet-Brenner wird das Schicksal einer jüdischen Familie zur Zeit der deutschen Besetzung in Paris 1942 verwoben mit dem einer Journalistin von heute

VON GASTON KIRSCHE

Die zehnjährige Sarah (Mélusine Mayance) spielt ausgelassen mit ihrem kleinen Bruder im Kinderzimmer, auf einem Stuhl im Bildvordergrund sucht eine Katze eine bequeme Schlafposition. Da klopft es heftig an der Wohnungstür: Aufmachen, Polizei! Die Mutter (Natasha Mashkevich) wird von dem Polizeioffizier sofort verhört: Madame Starzynski, laut Liste wohnen hier vier Personen – wo ist ihr Mann, wo die Kinder? Das Mädchen begreift schnell, überredet ihren kleinen Bruder, sich im Wandschrank hinter einer Tapetentür zu verstecken: „Ein Spiel!“ Der Bruder will erst nicht, verspricht ihr aber schließlich, erst herauszukommen, wen sie ihn ruft. „Nehmen sie mich mit, aber verschonen sie die Kinder“, fleht die Mutter die Polizisten an. Da erscheint das Mädchen und erklärt, ihr Bruder sei doch auf dem Land. In der Hand verbirgt sie den Schlüssel der Tapetentür.

Sarahs Eltern nehmen sie in ihre Mitte, aber sie können sie nicht vor dem abschirmen, was um sie herum, was mit ihnen geschieht. Französische Polizisten treiben sie in ein großes Gebäude, eine bereits überfüllte Halle. Eine Radsporthalle, das Vélodrome d’Hiver, mitten in Paris. Gefilmt wird aus der Sicht von Sarah. In drangvoller Enge und unerträglicher Hitze sind sie eingepfercht. Es gibt keine Toiletten, nichts zu trinken. Vor den Augen von Sarah stürzt sich eine Frau von der Zuschauertribüne in den Tod. Eine Frau schafft es, zu fliehen. Vorher hat sie den gelben Judenstern von ihrer Bluse abgemacht. Sarah ist verzweifelt, weil sie ihr den Schlüssel nicht geben durfte. Den Schlüssel für die Tapetentür, hinter der sie ihren kleinen Bruder eingeschlossen hat.

Fast siebzig Jahre später recherchiert die Journalistin Julia Jarmond (Kristin Scott Thomas) über die Deportationen. So fließen in den Spielfilm auf einer zweiten Erzählebene einige Fakten ein, ohne dass dies aufgesetzt wirkt. Vielmehr bringt es zusätzliche Spannung in den Film, darzustellen, wie heute auf die mörderische Judenverfolgung in Frankreich zurückgeblickt wird. In der Redaktionskonferenz erklärt sie einem jüngeren Kollegen, was am 16. und 17. Juli 1942 geschah: In einer gründlich vorbereiteten Razzia verhafteten tausende französische Polizisten 13.000 Juden, darunter 4.000 Kinder. Nachdem sie fünf Tage unter unerträglichen Bedingungen im Vélodrome d’Hiver eingesperrt waren, kamen sie in Transitlager am Stadtrand. Von dort aus ging es in Zügen direkt nach Auschwitz in das Vernichtungslager. Die Journalistin besucht die französische Gedenkstätte für die ermordeten Juden. Zur gleichen Zeit steckt sie in den Umzugsvorbereitungen in eine Wohnung, die ihren Schwiegereltern seit August 1942 gehört. Eher beiläufig fragt sie nach, ob dort zuvor deportierte Juden gewohnt hätten: Ja, die Familie Starzynski. Erschüttert beginnt sie, deren Schicksal zu recherchieren. Parallel werden im Film die beiden Geschichten weiterverfolgt. Dass die Journalistin auch noch eine Ehekrise inklusive unterschiedlichen Vorstellungen über die Familienplanung bewältigen muss, überfrachtet den Film zwar in einigen Momenten, überlagert aber nicht die dramatische Haupthandlung.

Mélusine Mayance, die elfjährige Darstellerin der Sarah, spielt eindringlich. Dabei kommt ihr zugute, dass Sarah in dem Film eine maßlose, kindliche Zielstrebigkeit dadurch entwickelt, dass sie das Versprechen gegenüber ihrem kleinen Bruder einlösen will. Und dass kann sie nur, wenn sie aus dem Lager flieht. „Sarahs Schlüssel“ ist die Verfilmung des gleichnamigen Bestsellers von Tatiana de Rosnay, der in Frankreich ein wichtiger Impuls war für die Debatte um die Kollaboration mit den Deutschen bei der Shoah. Der Regisseur Gilles Paquet-Brenner hat den bewegenden Film drei Familienangehörigen gewidmet, die deportiert wurden und umkamen.