„Ein schwedischer Robert Kennedy“

ZEITGESCHICHTE Schweden erinnert sich an seinen vor 25 Jahren ermordeten Ministerpräsidenten Olof Palme

■ Der Autor: 1957 geboren. Historiker und Journalist. Bis Ende 2010 Kulturchef und Kommentator der Stockholmer Tageszeitung Dagens Nyheter. Arbeitet derzeit an einem neuen Buch. Thema: Schweden im Zweiten Weltkrieg.

■ Das Buch: „Olof Palme. Vor uns liegen wunderbare Tage. Die Biografie.“ Aus dem Schwedischen von Paul Berf und Susanne Dahmann. Btb Verlag, München 2011, Deutsche Erstausgabe, 720 Seiten, 26,99 Euro

INTERVIEW REINHARD WOLFF

taz: Herr Berggren, ihre Biografie über Olof Palme ist ein großer Verkaufserfolg. Und es ist nicht das einzige Buch, das zum 25. Jahrestag des Attentats auf Palme erscheint. Wie erklären Sie sich das große Interesse?

Henrik Berggren: Das hat mehrere Gründe. Die ersten Jahre drehte sich alles um den Mord. Die Frage nach dem möglichen Täter und die Probleme des Ermittlungsverfahrens. Das Misslingen, einen Schuldigen zu finden. Jetzt sind die Leute nicht mehr so am Mord interessiert, sondern an Olof Palme selbst. Ich habe auch versucht, den Bogen etwas weiter zu spannen, ein Buch über die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zu schreiben. Die Jahre zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und den 80er Jahren sind jetzt Geschichte. Es gibt ein Bedürfnis zurückzublicken und zu verstehen.

Nach der Ermordung Palmes am 28. Februar 1986 mitten in der Stockholmer City war Schweden ein Land im Schock. Aber gab es auch wirkliche Trauer? Ein „Landesvater“ war Palme ja eigentlich nie.

Es gab beides, Schock und Trauer. Und, nein, Landesvater war er wirklich nicht. Dafür suchte er zu sehr die Konfrontation, polemisierte er ganz unschwedisch. Aber er war eine dominierende Gestalt in der schwedischen Politik. Und Palme repräsentierte viel von dem, was Schweden zu dieser Zeit auszeichnete: das Streben nach Gleichheit.

In gewissen Kreisen sollen ja nach seiner Ermordung die Sektkorken geknallt haben. Es gab einen verbreiteten Palme-Hass. Gerüchte wurden verbreitet, er sei drogenabhängig …

Schweden war jahrzehntelang von der Sozialdemokratie dominiert worden. Als Palme 1969 Ministerpräsident wurde, war sein Vorgänger Tage Erlander das schon 23 Jahre gewesen. Da gab es natürlich durchaus eine Frustration in der bürgerlichen Opposition.

Der Sozialdemokrat Palme war kein Marxist. Sie beschreiben ihn eher als einen sozialliberalen Politiker, einen schwedischen Robert Kennedy?

Ich wollte ihm kein ideologisches Etikett ankleben. Er war radikal und hatte Visionen, die er verwirklichen wollte. Gleichzeitig konnte er aber sehr pragmatisch sein.

In der deutschen Sozialdemokratie galten Schweden und Palme als Vorbild für eine Art „Dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Sowjetkommunismus. War das Palmes Vision?

Das kann man schon sagen. Die Sozialdemokraten standen für ein Gleichheitsideal und für eine Gesellschaft mit einem starken öffentlichen Sektor, aber eben kein Kommunismus. Palme war vom Anfang seiner politischen Laufbahn an ein ausgeprägter Antikommunist. Er war Modernist mit einem starken Fortschrittsglauben. Mehr Französische Revolution, wenn man so will.

Unter Palme verwandelte sich Schweden von einer steifen und hierarchischen Klassengesellschaft zu einem der egalitärsten Länder der Welt, heißt es in Ihrem Buch.

Wobei sich in den 1960er und 1970er Jahren ja nicht nur Schweden zu einer „gleicheren“ Gesellschaft entwickelte. Es gab nach dem Zweiten Weltkrieg einen großen Konsens, wie wichtig es ist, zusammenzuhalten. Eine Situation wie in den 1930er Jahren nicht mehr entstehen zu lassen. Ende der 70er Jahre war das etwas aus den Köpfen verschwunden. Nun galt ein starke Staat und Bürokratie plötzlich als Problem. Die Kritik daran gab es auch in der Sozialdemokratie.

War das, was von diesem Gleichheitsstreben vor allem übrig blieb, die gestärkte Stellung der Frauen? Liegt hier die große Bedeutung von Palme?

Absolut. Zwar gab es Debatten über den Ausbau der öffentlichen Kinderbetreuung, Steuerreformen, Familiengesetzgebung seit den 1950er und 60er Jahren. Aber Palme stellte sich an die Spitze dieser Bewegung und definierte 1973 in einer programmatischen Parteitagsrede die Gleichberechtigung als eine der zentralen Ziele der Sozialdemokratie. Es gab in den 70er Jahren Reformen in diesem Sektor, die beispielsweise dann erst 30 Jahre später in Deutschland aufgegriffen wurden.

„Palmes Engagement für die Gleichberechtigung hindert ihn nicht, eine Familie zu haben, für die er dann nie Zeit hat, außer in einigen Ferienwochen im Sommer“, schreibt eine Rezensentin Ihres Buches.

So war es definitiv. Es war seine Ehefrau Lisbet, die die Verantwortung für die Familie hatte. Doch die Familie war außerordentlich wichtig für ihn. Großes Vertrauen zu Freunden hatte er nicht.

Ein fester Glaube an den technischen Fortschritt prägte den Politiker Palme und dazu gehörte auch die Atomenergie. Schweden war ein Vorreiter, was den Bau von Atomkraftwerken anging. 1976 hat die Sozialdemokratie nach 43 Jahren ausgerechnet über die Atomkraftdebatte die politische Macht verloren.

Das war schon komisch. Die bürgerliche Opposition konnte die Schweden nie davon überzeugen, dass sie ein besseres Wohlfahrtsstaatskonzept als die Sozialdemokraten hatten. Es war dann eine Kombination aus Atomkraftopposition, Widerstand gegen eine wachsende Zentralisierung und Urbanisierung, die sie an die Macht brachte. Ohne dass sie eigentlich viel anders machen wollten als die Palme-Regierung. Es war eine uneinige, eine unheilige Allianz, die Palme ablöste, mit dem Ziel um jeden Preis die Macht zu übernehmen.

Aber Palme hat doch die einsetzende grüne Welle, die Bedeutung der Umweltpolitik verschlafen?

Das finde ich nicht. Er hat sich früh zu umweltpolitischen Themen geäußert. Aber er war sehr fortschrittsgläubig und glaubte nicht, dass ein Zurückschalten die Lösung war. Sein Credo war: Wir brauchen Industrie, wir brauchen Arbeitsplätze, wir brauchen Wachstum – und das muss dann so gerecht wie möglich verteilt werden.

1973 hat Palme zwei Journalisten, Jan Guillou und Peter Bratt, als „Feinde unserer demokratisch reformistischen Gesellschaft“ abqualifiziert. Es gab eine Anklage gegen die beiden, dabei hatten sie nur ihren Job getan und eine geheime Spionageorganisation enthüllt.

Also, ob die Regierung bei der Anklage ihre Finger im Spiel hatte ist bis heute unklar. Palme war eben nicht nur Moralist und Visionär, sondern auch Pragmatiker. Wie etwa das Beispiel USA zeigt: Scharfe Verurteilung des Vietnamkriegs einerseits, aber andererseits gleichzeitig der Wunsch, aus schwedischem nationalen Interesse heraus die militärtechnische Zusammenarbeit fortzusetzen: Also einerseits ein Ende des Vietnamkriegs zu wollen, andererseits aber keinen Bruch mit den USA.

Olof Palme bildete zusammen mit Willy Brandt und Bruno Kreisky ein Triumvirat, das in den 1980er Jahren die Politik der Sozialistischen Internationale bestimmte. Befreiungsbestrebungen in Osteuropa kamen ihnen nicht unbedingt gelegen. Schien man sich mehr Sorgen um eine dadurch geschwächte Position Moskaus zu machen?

Palme war ein Verfechter des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Gleichzeitig suchte er nach einer Abrüstungslösung für Europa, um die Stationierung der Mittelstreckenraketen und das Star-Wars-Programm zu verhindern. Er wollte die Supermächte an den Verhandlungstisch bringen, und das ging nicht unbedingt über die Betonung des Selbstbestimmungsrechts kleinerer Nationen. Die schwedische Lösung sah dann so aus, dass die schwedischen Gewerkschaften die polnische Solidarność unterstützte, während sich die offizielle Politik zurückhielt.

Ein halbes Jahr vor seiner Ermordung wurde Olof Palme noch einmal im Ministerpräsidentenamt bestätigt. Aber er wirkte müde, resignativ. Stand Palme kurz vor seiner Ermordung Mitte der 1980er Jahre nicht bereits am Ende seiner politischen Karriere?

Das ist schwer zu beantworten. Es gab schon eine weitverbreitete Auffassung, dass Palme fertig gewesen sei. Als Mensch war er mit 59 Jahren zwar noch nicht alt. Als Politiker aber schon. Er stand seit den 1950er Jahren im Zentrum der schwedischen Politik. Er war also noch mit Adenauer und Churchill zusammengetroffen! Viel sprach dafür, dass er vorhatte, bald seinen Posten zu räumen. Aber wissen können wir es nicht. Er war unvorhersehbarer, als man glauben mag. Ich habe in meinem Buch auch bewusst versucht, das offenzulassen.

„Vor uns liegen wunderbare Tage“ – wie kamen Sie auf den Titel?

Es ist ein französisches Sprichwort – „les beaux jours sont devant nous“ –, das Palme 1968 in einer Rede verwendete. Ich verstand es als Zusammenfassung seines Optimismus und seines Zukunftsglaubens. Ich wollte für den Titel so etwas wie eine Beschreibung dieser Zeit, des damaligen Zeitgeistes, seiner Einstellung haben.